Die Elenden von Lódz
trägt einen Sack bei sich. Es ist derselbe Sack, mit dem Jakub umherzieht und in dem er Fabian Zajtmans Puppen aufbewahrt. Und jetzt fragt der hungernde Rabbiner das Publikum, ob es will, dass er den Sack für sie öffnet, damit sie sehen, was darin ist. Und das Publikum lacht und ruft und schreit
ja, ja …!
(sie erkennen Jakub und seinen Sack wieder); und aus dem Sack zieht der hungernde Rabbiner aus Włodawa eine ungewöhnliche orientalische Pflanze, die, wenn man sie verbrennt, einen besonderen Rauch |464| erzeugt, der als
wundermitl
dient. (Jakub hat inzwischen ein illustrierendes Feuer angezündet und Rauch quillt unter dem Wagen hervor.) Wenn die Menschen den Kopf in den Rauch stecken, ist es, als würde ihnen der Kopf verdreht, und sie glauben, dass alles, was man ihnen erzählt, wahr ist, dass der Perserkönig Ahasver dem israelischen Volk wohlwill und sie von dem bösen Haman nichts zu fürchten haben.
Und die Leute des Publikums, die die klassische Purimgeschichte wiedererkennen, schreien nun empört:
Was ist das für ein Rabbiner?
Raus mit dem falschen Rabbiner!
Und der Rabbiner wird hinausgeworfen, der giftige Rauch vertrieben, die Kulissen geändert, und das
echte
Purimspiel kann seinen Anfang nehmen:
Ester hat den Perserkönig Ahasver geheiratet, und Haman, der Diener des Königs, streicht durch die Kulissen und plant seine bösen Anschläge gegen das jüdische Volk. Als Königsdiener Haman lässt Jakub eine von Zajtmans alten Handpuppen agieren, die er als
polizajt
ausgestattet hat, mit Mütze, hohen Stiefeln und der speziellen Armbinde der Sonder. Und als das Publikum den als Polizist gekleideten Haman erblickt, ist es, als durchführe es ein heftiger Schauer, und hier und da fangen die Leute aufgeregt an zu schreien und mit den Suppentöpfen zu rasseln.
Jetzt aber betritt der rettende Mordechai die Bühne, und natürlich ist das aufs Neue der hungernde Rabbiner von Włodawa: nun aber in neuer Gestalt. Und wieder hat der Rabbiner seinen Sack dabei. Und auch jetzt ist der Sack mit
w undermitl
gefüllt.
Und kommt, kommt …!
, sagt Mordechai.
Wenn ihr den Kopf in den Sack steckt, werdet ihr reichlich Brot bekommen. Ich werde euch auch ins Land Israel führen …!
Und wie um zu zeigen, wer er hinter all seinen Verkleidungen tatsächlich ist, hält er die Hand zur selben segnenden Geste erhoben wie der Präses, wenn er die Brautpaare des Gettos traut.
Und:
Chaim, Chaim!
, schreit das Publikum, das seinen Präses vom ersten Augenblick an wiedererkennt. Und die Luft ist voll mit Wolken
fun di wundermitl
.
Und der große Haman fällt auf den Rücken, erstickt von all dem entsetzlichen Rauch.
|465| Und dem Perserkönig Ahasver fällt es wie Schuppen von den Augen. Er erkennt in Haman das Werkzeug des Bösen, das er ist, preist Mordechai für seine List und gelobt dem jüdischen Volk fortan ewige Treue. Das Publikum aber hat noch immer nur Augen für den verkleideten Präses mit seinem Sack und seinem
wundermitl
. Es stampft auf den Boden, rasselt mit Suppengefäßen und schreit um die Wette:
Chaim, Chaim!
Gib uns Brot!
Chaim, Chaim!
Gib uns Brot!
*
Am Tag darauf: einem Freitag.
In Kürze hätte der Sabbat eingesetzt, wenn die Behörden nicht alle Arten von Sabbatfeiern im Getto verboten hätten.
Stattdessen hat sich Nebel im Getto ausgebreitet, und das Einzige, was man von den Häusern sieht, sind die vom Schlamm gelockerten Fundamente. Samuel Wajsberg hat es bis zum Tor der Tischlerei geschafft, bevor er die Polizisten erblickt, die vor den Fabrikzäunen eine Kette bilden. Vornan steht ein Offizier und blättert die Ausweisdokumente aller neu eingetroffenen Arbeiter durch.
Nach der Durchsicht der Papiere müssen sich die Arbeiter auf dem Hof aufstellen; worauf eine Art Inventur beginnt.
Männer der Sonder gehen zwischen Hobelmaschinen und Brettersägen hinein und hinaus, zählen die Holzfuhren und notieren Zahlen. Samuel steht neben Jakub. Jakub bewegt sich leicht unlustig, lässt ansonsten aber kein Anzeichen erkennen, dass etwas nicht stimmen könnte.
Jetzt hebt sich der Nebel ein wenig. Ein fahles, wässriges Licht dringt durch die Wolken und lässt den Fabrikzaun starr und matt wie Quecksilber blinken. Es ist so still, dass man das Geräusch des Schmelzwassers hört, das von der Dachkante auf den schlammigen Hof tropft und rinnt.
|466| Ein rascher Wortwechsel hagelt plötzlich aus dem Tischlereibüro, und ein Herr Kutner wird zwischen strikten Ordnungskräften herausgeführt.
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