Die Elenden von Lódz
keiner Aussiedlungskommission
, sagte sie nur.
Ohne die geringsten Gesten, doch mit einer Art Wut in jeder Silbe, als wären die nun ausgesprochenen Worte die ersten, die sie seit Jahrzehnten geäußert hatte:
Du meldest dich nicht, egal was du tust, aber du meldest dich nicht … wir müssen dich verstecken!
Samuel war nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dass er sich verstecken könnte, obgleich Hunderte Männer in derselben Lage sich bereits fernhielten. Der Älteste drohte mit Repressalien. Den Frauen, die ihre Männer schützten, wurde die Arbeitserlaubnis entzogen. Und jedermann im Getto wusste, was das hieß. Ohne Arbeit kein Essen.
Dennoch zögerte Hala keine Sekunde. Ihr liebstes Kind hatten sie ihr genommen. Jetzt war sie nicht bereit, noch jemanden herzugeben. Lieber sollte man sie selbst nehmen.
Keiner von ihnen aß jetzt. Keiner von ihnen wagte, Halas Blick zu begegnen. (Hätten sie es getan, hätten sie bemerkt, dass unter den hohen Wangenknochen gleichsam ein weißer Rand zu den Mundwinkeln verlief, eine Maske, ebenso eng zugeschnitten wie bei einer von Fabian Zajtmans Puppen.)
Es gab einen alten Lagerraum im Anschluss an die Wäscherei in der |471| Łagiewnicka, der früher als Kohlenlager diente. Nunmehr kamen die Kohlenlieferungen, falls sie überhaupt kamen, derart sporadisch, dass das Lager nie gebraucht wurde. Hala besaß allerdings noch immer den Schlüssel. Sie zog ihn aus der Schürzentasche, ließ ihn auf die Tischplatte fallen und stand auf.
Jakub kam die Aufgabe zu, den Vater hinzubringen. Sie selbst ging seine Sachen packen. Sie würde auch Essen einpacken, damit er dort klarkam. Sie sagte nicht, was für Essen oder woher sie es nehmen würde; und keiner von ihnen wagte zu fragen.
Eine von Fabian Zajtmans Lieblingsgeschichten handelte von einem Bärenführer, der mit seinem tanzenden Bären von Markt zu Markt zog. Der Bärenführer hatte keinen Namen, der Bär aber hieß Mikrut. Und so ein Bär war Mikrut, erzählte Fabian Zajtman, dass er nicht einmal, wenn sie von Stadt zu Stadt zogen, seine Tatzen von den Schultern seines Führers nahm.
Von Stadt zu Stadt gingen sie so, unzertrennlich wie ein Tandem.
Wie ein solches Tandem kam auch Jakub sich vor, als er mit seinem Vater nun durchs Getto ging. Hoch und runter gingen sie; bekannte Straßen hoch und runter, die das Ausgangsverbot gänzlich fremd gemacht hatte. Erst kürzlich hatten sich Tausende von Menschen zwischen Buden und Schuppen gedrängt. Jetzt drängte sich hier niemand. Nirgendwo drang ein Lichtstrahl durch die Verdunkelungsrollos. Von acht Uhr abends an war es im Getto stockfinster.
Um zu verhindern, dass sich Leute an ihren Arbeitsplätzen versteckten, hatte der Älteste angeordnet, dass alle Fabriken nach der letzten Schicht geschlossen und versiegelt wurden. Doch das Kohlenlager der Wäscherei in der Łagiewnicka lag nicht im selben Gebäude wie diese, sondern im Keller des Hauses gegenüber. Jakub schloss mit dem von Hala erhaltenen Schlüssel auf. Die Tür war eingerostet und quietschte bedenklich.
Brauchst du irgendwas?
Nein. Nichts.
Ich komme morgen wieder.
Komm, wann du kannst. Ich komme schon zurecht.
|472| Jakub steht da, die Tür in der einen Hand, den Schlüssel in der anderen. Das Gesicht des Vaters im Halbdunkel, der Leib gebeugt, der Blick am Boden. Jakub spürt, dass er jetzt die Tür zumachen und abschließen muss, sonst wird es unerträglich. Aber es widerstrebt ihm, die Tür zu schließen. Ein Sohn schlägt seinem Vater nicht die Tür vor der Nase zu. Und wie soll sich der Vater in diesem widerwärtigen Loch überhaupt zurechtfinden? Bekommt er dort überhaupt genug Luft? Wo soll er schlafen?
Samuel rührt sich nicht, der Sohn ebenso wenig. Beide stehen in ihrer Unentschlossenheit da, bis draußen auf der Straße etwas scheppert, ein Gegenstand aus Metall, von einem Stiefel im Vorbeigehen angestoßen. Danach eine scharfe Stimme, die etwas auf Jiddisch ruft. Die Sonder.
Mach jetzt zu
, sagt der Vater.
Und da schließt Jakub die Tür. Es ist so schwer, den Schlüssel im Schloss zu drehen, dass er den ganzen Körper gegen die Tür stemmen muss. Dennoch schließt er den Vater ein, wartet, bis er glaubt, dass die Sonderpatrouille weitergezogen ist, und schleicht dann auf die Straße.
*
Jakub geht mit seinem Bären durch den Wald. Es ist ein Wald voller Dickicht. Der Bärenführer kann kaum den Weg vor sich erkennen. Doch hat er zumindest die sicheren Tatzen seines Bären
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