Die Elenden von Lódz
Austausch von Arbeitern geschehe unentwegt.
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Seit man ihnen an diesen widrigen
szpera
-Tagen Chaim genommen hatte, war es, als habe sich in Hala etwas für immer verändert.
Jakubs Bruder Chaim war geliebt und vergöttert worden wie wenige Kinder, und Hala hatte immer gewusst, dass zwischen ihnen beiden eine besondere Verbindung bestand. Sie war die Einzige, die zu der stillen unbändigen Willensstärke vorzudringen vermochte, die sich, wie sie wusste, hinter seinem scheinbar leblosen, grauen Blick verbarg; und diese Verbindung zwischen Mutter und Sohn wurde an dem Tag, als ihnen Chaim genommen wurde, nicht unterbrochen. Vielmehr nahm sie ständig an Stärke zu. Tag für Tag glaubte Hala genau zu wissen, wo sich ihr jüngster Sohn befand, was er tat und was er dachte. Sie konnte ihren eigenen Körper und ihre Seele ebenso einfach und selbstverständlich um die seinen schmiegen, wie andere ein Paar Strümpfe oder Handschuhe überziehen.
Gleichwohl war Hala eine praktisch veranlagte Frau.
Auch die noch vorhandenen Kinder mussten ernährt werden, selbst wenn es kaum Essbares gab.
Tagtäglich ging Hala zu ihrem Arbeitsplatz in der Zentralwäscherei, aß ihre
resortka
mit den anderen streng weißgekleideten Wäscherinnen. Wurden neue Rationen angekündigt, drängte sie sich stundenlang in der Schlange, um die kleine Extramenge zu erstehen, die man bekommen konnte; einen Sack Rüben vielleicht oder ein Pfund
botwinki
, aus dem sich Suppe kochen ließ.
|469| Die ganze Zeit über gab es indes diese andere Welt, in der sie mit Chaim lebte:
Es kam vor, dass sie beim Gedanken an ihn weinte, und wenn das Weinen aus größter Tiefe kam, wurde es zu einem zehrenden Schmerz in der Brust. Dann erschien er erneut vor ihr. Zunächst die Augen, der feste graue Blick. Aus dem Blick erwuchs sein ganzer wundervoller Körper. Der breite straffe Nacken; die Schultern, bereits männlich breit für einen erst sechsjährigen Jungen; die Schulterblätter, gerade und scharf wie Messerklingen. Hala berührte den schmalen, starken Jungenkörper, und die feuchten, weichen Falten in Achselhöhlen, Schritt und Kniekehlen waren wie ein Teil ihres eigenen Leibes.
Sein
Leib, das verstand sie sehr bald, hatte ihren eigenen gewissermaßen nie verlassen.
Zwischen äußerer und innerer Welt, zwischen dem Leben im Getto und den Träumen mit Chaim öffnete sich ein Abgrund in Hala. Jenseits dieses Abgrunds befanden sich Samuel und Jakub. Von jener Seite, auf der sie sich mit Chaim befand, rief Hala Jakub zu, sie verbiete ihm, mit seinem Wagen draußen umherzuziehen, obgleich der Wagen alles war, was Jakub besaß, und niemals änderte sich dieser Ausdruck in Halas Gesicht, der sie aussehen ließ, als stünde sie rufend jenseits eines Abgrunds. Abend für Abend hielt sie Jakub wie in einem Schraubstock umfasst, während sie die schrundigen Jungenfingernägel schrubbte, um all den Schmutz wegzubürsten.
Nachdem sie vier lange Jahre voll Hunger und Elend im Getto durchgestanden hatte, wusste Hala Wajsberg eine Sache mit Sicherheit:
Es kam darauf an, nicht aufzufallen.
– Hätte Samuel damals am Übergang der Zgierska nicht die Aufmerksamkeit des deutschen Wachtpostens auf sich gezogen, hätte er nie diesen Tritt gegen die Lunge bekommen und wäre nicht zeitlebens zum Krüppel geworden.
– Hätte Adam Rzepin während des Ausgangsverbots nicht starrsinnig seine kranke Schwester versteckt, hätte den deutschen Kommandoführer nicht eine solche Wut gepackt, und ihr geliebter Chaim wäre noch immer bei ihnen.
– Und was diese Sache mit den Puppen anging, hatte sie bereits, als |470| Fabian Zajtman noch am Leben war, angemerkt, dass sich ein Jude für derlei Firlefanz zu gut sein sollte. Ein guter Jude heiligt den Sabbat, lebt koscher (wenn er kann) und widmet sich vor allem keinem Gaukelspiel. Aus Schmähung und Götzendienst vermag nur Übles zu erwachsen.
Jetzt saß sie am Tisch und tat die dünne Rote-Beete-Suppe aus dem Kessel auf, und das Einzige, was sie sah, war etwas, das hier nicht hingehörte. Auf der Tischdecke beiderseits des Suppentellers lagen die Hände des Sohns, schmutzig und aufgerissen nach einem ganzen Tag im Getto; und neben den Händen ihres Gatten lag der Brief der Aussiedlungskommission, adressiert an
Hr. Samuel Wajsberg, Gnesenerstr.28, Litzmannstadt Getto.
Sie sah die Adresse deutlich auf dem Briefkopf. Wie war es möglich, dass ein derart verhasstes Dokument in ihr eigenes Zuhause eindringen konnte?
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