Die Elenden von Lódz
auf den Schultern.
Dann geschieht etwas. Der Bärenführer dreht sich um, aber obgleich er noch immer die Tatzen seines Bären auf dem Rücken spürt, ist der Bär fort.
Er weiß, dass er dennoch weitergehen muss.
Er geht und geht, und während er geht, spürt er, wie er selbst zum Bären wird. Doch wenn er der Bär ist – wer ist dann sein Führer?
Jakub steht, seine unschuldigen Bärentatzen erhoben, und kann keine Antwort geben.
Wo hast du deinen Bärenführer?
Wieder und wieder fragen sie ihn.
Es sind vier Männer der Sonder, und sie stehen in einem bestimmten Abstand voneinander, so als wären sie im Begriff, sich von vier Seiten |473| gleichzeitig auf ihn zu werfen. Und natürlich fragen sie nicht nach dem Bärenführer.
Wo hast du deinen Vater?
, fragen sie ihn.
Besonders ein Polizist ist darunter. Blond und blauäugig, mit länglichem Gesicht und einem Mund, der nur aus Zähnen besteht. Ein ums andere Mal nähert sich der lächelnde Polizist, so als wollte er hinter seinem Rücken Deckung suchen; und jedes Mal, wenn er das tut, tritt ein anderer vor und schlägt Jakub mit dem Schlagstock oder der offenen Hand hart ins Gesicht.
Wo hast du deinen Vater versteckt?,
fragt der blonde Mann mit den glänzenden Zähnen und steht jetzt so dicht hinter Jakub, dass der den heißen Atem des Mannes im Nacken spürt. Das Polnisch aus dessen Mund hat eine etwas seltsame Wortfolge, aber bevor Jakub noch dahinterkommen kann, was es damit auf sich hat, lässt der Mann seinen Rücken los, und die drei anderen treten heran und schlagen zu.
Nach vier Stunden lassen sie ihn laufen.
Irgendwie gelingt es ihm, sich in die Gnieźnieńska heimzuschleppen.
Wenigstens seine Knochen sind heil. Nichts ist gebrochen. Doch ihm ist, als hätte sein Körper alle Kraft verloren. Er kann sich bis ins Haus schleppen, die Stufen hinauf schafft er indes nicht. Hala findet ihn am Fuß der Treppe, als sie abends gegen sieben Uhr aus der Wäscherei heimkehrt. Sie nimmt ihn auf ihren Rücken und trägt ihn all die Treppen hinauf, als wäre er ein einfacher Kartoffelsack.
Oben in der Wohnung heizt sie den Ofen, wärmt Wasser in einem Topf und wäscht ihm mit einem Lappen das Gesicht. Nach dem Waschen streut sie etwas, das wie Salz aussieht, ins Wasser und wäscht ihn aufs Neue. Es brennt auch wie Salz, und Jakub schreit und will sich wegdrehen. Hala aber klemmt seinen Kopf zwischen ihre Beine und schrubbt und scheuert weiter. Als sie ihn schließlich loslässt, brennt sein Gesicht, als hätte man ihm die Haut weggeätzt. Er macht sich gewaltsam frei, dann erinnert er sich an nichts mehr. Er muss eingeschlafen sein.
|474| In der Nacht kommen die vier Männer wieder und reißen sie aus ihren Betten.
Hat er überhaupt in einem Bett geschlafen?
Er erinnert sich nicht. Nur dass ihn fremde Männer packen und gegen die Wand drücken. Erneut haben sie ihre Schlagstöcke dabei, und die Hiebe treffen ihn in die Seite, den Teil zwischen Hüftkamm und Leiste, an dem man den Schmerz am deutlichsten spürt. Der Schmerz ist so unerträglich, dass der Schrei keinen Platz in der Kehle hat. Stattdessen erbricht er sich: eine fahle, wässrige Masse. Die Männer aber kümmert das nicht. Sie drücken sein Gesicht in die Pampe und pressen ihm Knie oder Ellenbogen gegen Nacken und Schulterblätter, bis er nicht mehr atmen kann.
Tötet ihn nicht!
Hala ist es, die schreit.
Trotz des Schmerzes gelingt es ihm, sich auf die Seite zu drehen. Im selben Augenblick sieht er, wie die Mutter mit aus der Nase spritzendem Blut rückwärts wankt. Einer der Männer presst ihren Körper gegen die Wand.
Sie stehen lange scheinbar gänzlich unbeweglich, der Körper des Polizisten an den der Mutter gedrückt, fast wie in behutsamer Umarmung. Dann beginnt der Mann seinen Unterleib langsam, mit kurzen hackenden Stößen gegen den der Mutter zu bewegen. Erst jetzt sieht er Halas Gesicht. Nur zwei hilflos starrende Augen sind über der Handfläche sichtbar, die sich ihr brutal auf Mund und Nase presst.
Jakub macht einen Versuch, die Lähmung zu überwinden, in die ihn der Schmerz versetzt hat, will zur Mutter gelangen, die nun zusammengekrümmt an der Wand liegt.
Doch was er auch tut, er schafft es nicht, sich von sich selbst zu befreien. Dann geht der Schmerz in ein entsetzliches, würgendes Taubheitsgefühl über – und er erbricht sich aufs Neue.
*
|475| Jakub schließt für den Vater auf.
Die Dunkelheit des Kohlenkellers sitzt jetzt auch im Gesicht des Vaters.
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