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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Gefängniswärters hellt sich auf. Er hebt die Hand und gibt seinem Kollegen ein Zeichen, der von der anderen Seite herankommt.
Ach, ist es jetzt so weit, sich zu melden …!,
sagt der Kollege, adressiert offenbar an die deutschen Gendarmen, und um den Mächtigen zu zeigen, wozu er selbst mächtig ist, schwingt er seinen Schlagstock und trifft den Vater mit einem heftigen Hieb in den Nacken. Der Vater stürzt wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hat. Die deutschen Gendarmen verziehen keine Miene. Der misstrauische Gefängniswärter stößt mit der Stiefelspitze in den vor ihm liegenden Körper. Es ist, als würde er dem, was sein Kollege getan hat, noch immer nicht richtig trauen. Dann tritt er einen kurzen Schritt zurück.
    Du hast deine Arbeit getan, sagt er zu Jakub. Ab mit dir nach Hause.

 
    |478| Adam Rzepin war bereits im Jahr zuvor, im März oder April, zu Józef Feldman in die alte, in Marysin gelegene Gärtnerei gezogen. Keiner von beiden konnte später genau sagen, wann oder wie oder warum es überhaupt dazu gekommen war. Sie hatten sich einfach geeinigt, dass es so am praktischsten für beide wäre. Józef hatte zwischen Eimern und Bottichen einen Schlafplatz in der hinteren Ecke, an der Gewächshauswand, freigeräumt. Hier waren die Kunden in früheren Jahren umhergegangen und hatten zwischen dünnen Apfel- und Birnbäumen gewählt, deren Wurzelballen von Säcken umhüllt waren. Auf dem Steinfußboden hatte Józef ein paar Jutesäcke und über eine ramponierte Matratze eine Pferdedecke ausgebreitet, und hier lag Adam Rzepin und sah das frühe Morgenlicht über die niedrige Gartenmauer dringen und auf den über ihm befindlichen Borden eine Kaskade von Lichtfragmenten aus den zersprungenen Glasgefäßen brechen. Es wurde nun immer heller.
    Auf dem Papier lebte Adam noch immer bei seinem Vater im Inneren des Gettos, Szaja aber verfügte nunmehr lediglich über die Küche, da eine andere Familie das Zimmer mit Beschlag belegt hatte. Dennoch besuchte Adam seinen Vater hin und wieder in der Gnieźnieńska. Wenn er zurückkam, brachte er in der Regel nur seine Arbeitskarte mit. Die Brottalons ließ er in der Kommodenschublade von Szajas Küche zurück. Und Szaja übernahm es auch, das wenige an Rationen abzuholen, das sich noch beschaffen ließ. Der Vater bestand darauf, jedes Mal, wenn Adam kam, alles auf der Waage abzuwiegen, und er achtete genauestens darauf, jeden Laib Brot in exakt gleich große Teile zu schneiden, obgleich Adam oft eigene Nahrungsmittel mitbrachte: Kartoffeln, die von den Wagen gerollt, Rüben, Kohl und Rote Beete, die man während der Wintermonate aus dem Boden geholt hatte. Die neuen Mieter sahen aus dem Zimmer neidisch zu. Rzepins Sohn musste Beziehungen zu
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haben, wie sollte er sonst an all diese Kostbarkeiten kommen?
    |479| Adam hatte gelernt, vorsichtig zu sein. Überall auf dem Weg nach Marysin wimmelte es von Männern der Sonder. Auch wenn er das kurze Stück von Feldman zum Radogoszcztor ging, versuchte er sich sicherheitshalber anderen aus seiner Arbeitsbrigade anzuschließen, meist waren es Jankiel Moskowicz und Marek Szajnwald sowie dessen beide jüngere Brüder, die draußen am Güterbahnhof ebenfalls Verlade- und Entladearbeiten verrichteten.
    Jankiel war vielleicht vierzehn, höchsten fünfzehn; mit Haaren wie eine Wurzelbürste und einem breiten Band heller Sommersprossen auf dem Nasenrücken, die ihn womöglich noch jünger wirken ließen. Jankiel hatte noch nicht gelernt, unbemerkt zu bleiben, und dass man obendrein Kraft sparte, wenn man seine Arbeit still verrichtete. Er hatte zu allem und jedem seine Theorien und ließ keine Gelegenheit aus, diese zu diskutieren. »Die dort kommen allesamt von der Ostfront«, sagte er beispielsweise über einen Konvoi mit Militärmaterial, der die Jagiellónska heraufgerumpelt kam; darunter auch ganze Panzerwagen mit Schlamm zwischen den Raupenketten und festgezurrten Geschützrohren. »Die hatten Glück, dass sie ihre Artillerie mitnehmen konnten, aber wenn sie glauben, hier eine neue Front errichten zu können, irren sie sich gewaltig. Stalin wird sie mit seinen Panzern einfach überrollen.« Doch war es nicht nur auf dem Rückzug befindliche deutsche Artillerie, die von Radogoszcz aus transportiert wurde, sondern auch der größte Teil des Materials, das die Gettobetriebe diesen Winter und das folgende Frühjahr in unbegreiflicher Menge produzierten. Türspiegel, Fensterleisten, Hausgiebel, zuweilen

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