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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Älteste an jenem Tag seine eigene Überprüfung vornehmen würde:
eine Musterung des nach Radegast zugeteilten Menschenmaterials
, wie es in der Chronik heißt.
    Jetzt standen also die Personen der sogenannten Arbeitsreserve im Kino Marysin und krümmten ihre Rücken gegen Schnee und Regen, die zwischen den maroden Bretterwänden des Schuppens hereintrieben.
    Es herrschte Unruhe unter den Versammelten. Ein Vertreter der Büroangestellten, die Biebow hier hinauskommandiert hatte, erhob die Forderung, dass sämtliche weibliche Personen unter ihnen zu »normaler Arbeit« zurückkehren dürften oder jedenfalls im Haus oder vor Wind |484| geschützt arbeiten könnten. Einer der männlichen Arbeiter klagte darüber, dass der Ziegelsplitt Finger und Hände zerschnitt; dass sie keine Arbeitsgeräte hätten; dass die ihnen servierte Suppe so dünn wäre, dass man auf dem Boden des Gefäßes eine Münze erkennen könnte (falls man eine zum Hineinwerfen hätte).
    Liebe Juden, liebe leidende Mitbrüder und Schwestern
, begann der Präses, doch da hatten einige der Arbeiter bereits genug und setzten die Ellbogen ein, um aus dem vollgepfropften Schuppen zu kommen. Obgleich Männer der Sonder, die man hierher abkommandiert hatte, einen halbherzigen Versuch unternahmen, ihnen den Weg zu versperren, folgten den ersten Arbeitern bald weitere. Die Leute kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück, und die Beamten des Zentralen Arbeitsbüros, die über die Musterung Protokoll führen sollten, standen mit ihren langen Namenslisten ratlos da.
    Streik
, brubbelte einer,
das hier ist gleichbedeutend mit Arbeitsverweigerung …!
    Doch was half das schon?
    Seit mehreren Tagen hatte das Wetter unentwegt gewechselt. Einen Moment lang strahlte die Sonne von einem Himmel, der so rasch von dichtem Grau zu leuchtendem Blau aufklarte, dass einem fast die Augen schmerzten. Die nächste Sekunde zog ein Schwall peitschenden Regens oder Schnees von der weiten Ebene ringsum herein. In der einen Minute wurden die Felder jenseits des Stacheldrahtzauns und auch die Wachtürme zinkweiß gepinselt, dann plötzlich war nichts anderes mehr zu sehen als Schnee, der in dem Augenblick – als die Arbeiter sich erneut über ihre Zementtröge und Schubkarren beugten – aus dem Boden selbst aufzuwirbeln schien.
    Aufgrund des Wetters hatte man erwartet, dass der Älteste nach der missglückten Musterung unverzüglich in die strombeheizte Geborgenheit des Büros am Bałucki Rynek zurückkehren würde. Stattdessen zwang er Kuper, den Wagen zu wenden, und kam in einer wirbelnden Schneewolke nach Radogoszcz gefahren.
    Auch er wollte prompt die Zementfabrik inspizieren
, wie Jankiel die Sache im Nachhinein formulierte.
Obgleich er mit all dem nichts zu schaffen hatte. Schließlich war das Biebows und Olszers Projekt!
    |485| Der noch eben in solchen Mengen gefallene Schnee war nun zu schwerem, dickem, wässrigem Matsch geworden, den die Karrenräder, Stiefel und Holzschuhe, die sich unablässig auf der Baustelle bewegten, noch glitschiger werden ließen. Zwei Männer mit einem Trog zwischen sich rutschten aus; der eine zog den anderen im Fall mit sich. Im selben Augenblick blieb der Wagen des Präses mit einem Rad im Schlamm stecken, und der Kutscher Kuper stieg vom Bock.
    Das war der Moment, in dem Adam sah, dass etwas nicht stimmte.
    Weit und breit war von den Leibwächtern, die den Ältesten stets umgaben, nichts zu sehen. Der Präses hatte sich im Wagen erhoben, nahm jedoch wieder Platz, als er einsah, wie allein er war.
    Oben vom Holzgerüst unter dem Hangardach hörte man plötzlich jemanden rufen:
     
    Chaim, Chaim!
    Gib uns Brot, Chaim!
     
    Der Ruf war nicht aggressiv, im Gegenteil: Er klang fast freundlich. Adam sah den Präses mit einem Blick nach oben schauen, der einen Moment lang fast wirkte, als läge eine Art Erwartung darin.
    Dann flog der erste Stein.
    Gänzlich unfassbar. Und die Arbeiter rundum erstarrten.
    Obgleich es einer von ihnen gewesen sein musste, der den Stein geworfen hatte, schien niemand es erwartet zu haben. Das Erschrecken unter ihnen war ebenso groß wie beim Ältesten, der jetzt tat, was er kurz zuvor hatte tun wollen: Er stand auf, um aus dem Wagen zu steigen.
    Da kam der zweite Stein geflogen.
    Adam sah ihn einen deutlichen Bogen beschreiben, quer durch das, was vom Himmel übrig war, bevor er irgendwo hinter dem Wagen landete; und plötzlich war die Luft vor ihm voller Steine, und nicht nur Steine waren es – auch Ziegelbrocken; alte

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