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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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die jener für ihn haben sollte, sondern weil er erst zu diesem Zeitpunkt wirklich verstand, dass der Krieg seinem Ende zuging. Nichts anderes als das, was mit dem Präses geschah, hätte ihn davon überzeugen können. Nicht das panische Bauen der Behelfshäuser; nicht das Heulen der Luftschutzsirenen, das Nacht für Nacht über den leeren Himmel hallte; nicht die Schützengräben, die man hinter den Mauern der Bracka aushob; nicht einmal die nunmehr fast täglich von Jankiel und seinen Kameraden verbreiteten Gerüchte, dass russische Verbindungsoffiziere nachts heimlich ins Getto kämen, um sich mit kommunistischen Widerstandskämpfern zu |482| treffen. Doch als die Leute sich nach hinten wandten und sogar auf den
Allerhöchsten
losgingen, den Präses persönlich, als es sogar
so weit ging
, da begriff er …
    Zu dieser Zeit hatten Polen und deutsche Ingenieure einen Prototyp des fertigen Hauses erstellt. Der Prototyp war wie das Haus drei mal fünf Meter groß, aus blaugestrichenem Heraklith errichtet und mit eingesetzten Fenstern, die aussahen, als wäre jemand vorbeigegangen und hätte sie auf die Wände gestempelt. Sonnenfarb verliebte sich vom ersten Augenblick an darin. Sofort holte er all seine Sachen aus dem Wärterhäuschen an der Bahnhofsrampe herüber, ließ Olszers »Radiotischchen« zurückbringen und schraubte die Pausenglocke draußen an die Wand. Sein
Prachthaus
nannte er das Ganze, vermutlich aufgrund der knalligen blauen Farbe.
    Die ganzen Jahre über war in Radogoszcz dieselbe deutsche Wachmannschaft tätig – zumindest seit Adam hergekommen war. Zwei Schupos, Schalz und Henze,
drei
, rechnete man Oberwachtmeister Dietrich Sonnenfarb hinzu, der indes seine Ehre dareinsetzte, sich möglichst wenig unter dem Pöbel zu zeigen. Nur wenn der Suppenwagen kam – oder es Zeit zur Wachablösung war –, konnte Sonnenfarb allergnädigst die Hand aus dem Fenster strecken, um die Glocke zu läuten. Andernfalls zeigte er sich draußen nur, wenn er zum Abtritt ging, was stets routinemäßig nach dem Verzehr seines mitgebrachten Mittagsmahls geschah. Adam und die anderen Arbeiter ließen ihrer Phantasie freien Lauf, was es wohl für Köstlichkeiten waren, die er allmorgendlich in seinen klappernden Dosen und Töpfen heranschleppte, und sie hielten in ihrer Arbeit inne, um zu sehen, wie Sonnenfarb nach der Mahlzeit seine mächtige Körpermasse zur »arischen« Latrine des Güterbahnhofs wälzte, verwundert darüber, wie ein Mensch während einer einzigen Mahlzeit derart viel Nahrung zu sich nehmen konnte, dass er sich
entleeren
musste, um Platz für mehr zu schaffen.
    Auf dem Rückweg versetzte Sonnenfarb stets einem Arbeiter, der zufällig in der Nähe stand, einen Tritt oder er streckte seinen dicken, frisch abgewischten Hintern in die Luft und tat, als furze er seine Verachtung heraus.
    Adam hatte längst gelernt, diese automatisch ausgeteilten Schläge |483| und Beschimpfungen zu ertragen. Er merkte sie kaum. Auch die gebrüllten deutschen Anweisungen, diese hysterische germanische
Befehlserteilung,
die unablässig über die Köpfe aller erfolgte: über dem Kreischen der rangierenden Waggons; dem Aufreißen der Ladeluken; dem Schlagen von Eisen auf Eisen. Nur eine Sache war es wert, dass man die Ohren spitzte, nämlich, wenn die Mittagssuppe ausgerufen wurde. Wenn Sonnenfarb seine große wulstige Hand aus dem Fenster des blauen Prachthauses streckte und den Klöppel der Glocke (die exakt an derselben Wandstelle festgeschraubt war, wo sie an dem vorigen Wärterhäuschen gesessen hatte) hin- und herzuzerren begann, dann horchte auch Adam auf.
    Eine von Jankiels Theorien war, dass die von ihnen abgeladenen Lebensmitteltransporte ausschließlich für die Mächtigen und Wohlhabenden im Getto bestimmt waren; dass sogar die dünne Suppe, mit der sie täglich verpflegt wurden, verdünnt worden war, damit das Konzentrat an
selbige
gehen konnte.
Jetzt wollen wir mal sehen, ob die Suppe heute einen Umweg über den Kohl gemacht hat
, sagte er immer, wenn Sonnenfarb den Klöppel bediente.
    Dann kam Schalz vorbei und gab ihm eins auf den Kopf, so dass seine Suppe vor Hunderten von erschrockenen Arbeitern zu Boden schwappte. Jankiel aber zeigte niemals Angst. Er verbeugte sich nur leicht. Als hätten ihm die deutschen Wachtposten, indem sie ihm die Suppe aus der Hand schlugen, die Chance gegeben, mit einem weiteren Zirkustrick die ausgeprägte Verachtung zu zeigen, die
er
für
sie
empfand.
     
    Es war festgelegt, dass der

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