Die Elenden von Lódz
den bewachten Konvoi der Gettoverwaltung an sämtlichen Güterschuppen vorüberfahren und vor jener Hälfte des Bahnhofsgebäudes haltmachen, in dem der Bahnhofsvorsteher und die Oberaufsicht ihre Büros hatten. Es war der zweite Tag des Streiks, und Adams erster Gedanke war, jetzt ist es aus mit uns, jetzt kommen sie, um uns alle zu deportieren. Doch im Unterschied zu Biebows früheren Besuchen, bei denen SS-Personal und Delegationen angereister Kaufleute »herumgeführt« worden waren, befand sich nun lediglich ein einziges Stabsfahrzeug im Konvoi; der Rest waren Polizisten auf Motorrädern oder Personen, die Biebows persönlicher Leibgarde angehörten. Obendrein war offensichtlich, dass der Besuch nicht im Voraus angekündigt worden war. Erst eine halbe Stunde nach Ankunft des Konvois kam Dietrich Sonnenfarb, mit den Armen fuchtelnd, herausgestürzt und schrie, alle sollten sich auf dem Bahnhofsgelände versammeln, auf dem Biebow eine Rede an die Arbeiter des Gettos zu halten wünschte.
Der Herr Amtsleiter hatte jedoch keine Geduld zu warten, bis ihm der Bahnhofsvorsteher einen geeigneten Platz zuwies. Vor Sonnenfarbs Prachthaus stand ein Lastenkarren auf Rädern. Die Ladefläche war ein wenig schräg, doch Biebow gelang es, hinaufzusteigen und sich mit Hilfe zweier seiner Leibwächter leidlich aufrecht zu halten:
Arbeiter des Gettos!
Ich bin hier herausgekommen, um direkt zu euch zu sprechen, damit ihr den Ernst der nun entstandenen Situation in vollem Maße begreift.
Viele von euch sehen mich zum ersten Mal – ich bitte euch daher, einen besonders genauen Blick auf mich zu werfen, denn was ich jetzt sage, werde ich nicht noch einmal sagen.
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Die Situation in Litzmannstadt hat sich verändert. Die Feinde des Reiches werfen bereits Bomben über dem Stadtrand ab. Wären einige dieser Bomben im Getto gefallen, würde heute niemand von uns hier stehen. Ich kann euch versichern, dass wir unser Äußerstes tun werden, um eure Sicherheit zu garantieren und die Möglichkeiten für euer Auskommen auch in Zukunft sicherzustellen.
Das gilt auch für euch Bahnhofsarbeiter.
Aber auch ihr habt eine eigene Verantwortung für eure Sicherheit.
Heute habe ich die Bildung zweier spezieller Arbeitsbrigaden zur Aushebung von Schützengräben angewiesen. So rasch wie möglich soll von der Ewaldstraße zur Bernhardstraße eine Linie gegraben werden, eine andere an der Bertholdstraße vom Kino Marysin an weiter nach draußen.
Ihr werdet umgehend Instruktionen erhalten, wo sich die Grabe-Bataillone zu versammeln haben. Diejenigen, die etwa erwägen, sich dort nicht einzufinden, möchte ich nur daran erinnern, dass das zu einem früheren Zeitpunkt im Zentralgefängnis eingerichtete Häftlingskommando noch immer Arbeiter aufnimmt. Erst heute habe ich wieder erfahren, dass Arbeiter bei den Siemenswerken, der AG Union, den Schuckertwerken, überall dort, wo man Munition herstellt, benötigt werden. Auch in Tschenstochau, wohin mehrere von euch, soweit ich weiß, bereits gebracht wurden.
Ich habe auch gehört, dass sich mehrere über das Essen beklagten, sich sogar geweigert haben zu essen, weil ihr plötzlich auf den Gedanken gekommen seid, dass die euch servierte Suppe von minderwertiger Qualität ist. Dass ihr essen und leben wollt, verstehe ich, und ihr werdet es auch. Doch ist es von entscheidender Bedeutung, dass Lebensmittel in erster Hand denen zukommen, die sie benötigen. Was lässt euch glauben, dass Leute andernorts besser dastehen? Tag für Tag werden deutsche Städte bombardiert. Auch drüben in Litzmannstadt hungern die Leute. Auch Volksdeutsche hungern. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, in erster Linie für die Menschen unseres eigenen Stamms zu sorgen.
Aber natürlich kümmern wir uns auch um unsere Juden. In all den Jahren, die ich als Amtsleiter tätig war, ist nicht ein Tag vergangen, an
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dem ich nicht alles in meiner Macht Stehende getan habe, um die
Bedingungen für meine jüdischen Arbeiter zu sichern. Obgleich es politisch zeitweise ungünstig stand, habe ich durch die Sicherung großer und wichtiger Aufträge für das Getto die Anstellung von Juden garantiert, die ich andernfalls hätte deportieren müssen. Euch wurde nicht ein Haar auf eurem Haupt gekrümmt. Dafür seid ihr selbst Zeugen.
Deshalb will ich daran erinnern, dass es von äußerster Wichtigkeit ist, dass jede Bestellung genau aufs I-Tüpfelchen so, wie angewiesen, ausgeführt wird und dass jeder Materialtransport, der
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