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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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sein Häuschen zurückgezogen, und aus den offenen Fenstern hörte man erneut Goebbels’ bombastische Attacken und die darauf folgenden Beifallsstürme. Kein Vorgesetzter schien sich genötigt zu sehen, dieses regelwidrige Ausposaunen zu stoppen.
    HEIL HITLER!
, erklang es im Triumph aus dem Haus, offenbar als Resonanz auf den entsprechenden Huldigungsgruß im Radio. Da knallte erneut ein Kochgeschirr zu Boden – eine Gruppe löste sich auf –, Arbeiter verließen entschlossen den Suppenwagen, der nun einsam mitten auf der Rampe stand, glänzend und fast unwirklich.
    Sonnenfarb zeigte sich erneut in der Tür:
     
    Provokationen? Schon wieder?
     
    – und plötzlich wimmelte es ringsum von bewaffneten deutschen Gendarmen. Woher waren sie gekommen? Die unwirkliche Lethargie, die zuvor auf der Bahnhofsrampe geherrscht hatte, war nun wie ausgewechselt gegen Stiefellaufen, Koppelklirren und heisere deutsche Stimmen, die riefen:
Halt!
    Einer aus dem Pulk der Arbeiter drehte sich um und rief:
     
    ER war es, ER war es …!
     
    |516| Adam sah, wie sich Jankiel zu Schalz umdrehte, der bereits das Gewehr an der Schulter hatte. Jankiel hob seine Suppenschüssel – wie um zu zeigen, dass das Gefäß randvoll mit der begehrten Hitlergeburtstagssuppe war. Oder war auch das nur wieder eine höhnische Geste?
    Adam drehte sich um, und im selben Augenblick legte Schalz den Finger um den Abzug und schoss. Das Echo des Schusses klang in ein Schweigen aus, das einer großen Leere glich.
    Alle standen wie betäubt um diese Leere. Vor ihnen, vornüber auf dem Boden liegend: Jankiel. Das Blut pumpte aus einer Wunde am Hals und breitete sich in einer Lache um ihn aus, während seine Augen leer, fast verständnislos zu der Stelle starrten, an der seine Suppenschüssel lag – unmöglich zu sagen, ob er das Geschirr so weit, wie es nur ging, von sich geworfen hatte oder ob er nun, selbst im Tod, alles tat, um sich nach ihr auszustrecken.
    Die Suppenschüssel aber war leer. Kein Tropfen der Suppe war in ihr gelandet.
    *
    Adam ging über leere Straßen heimwärts. Die Sonne brannte aus dem Nichts. In dem schattendurchsetzten Lichtgesplitter vom Gewächshaus sah er, dass dieselben Wagen, die zuvor Biebow nach Radogoszcz gebracht hatten, nun vor der Gärtnerei warteten, doch ohne einen Biebow darin. Der Einzige, der aus dem Fahrzeugkonvoi ausgestiegen war, war Werner Samstag. Es war das erste Mal, dass Adam ihn in der neuen, von der Sonder bestellten Uniform sah: graugrüne Jacke mit den rotweißen Insignien des Ordnungsdienstes auf Revers und Schulterklappen, die Mütze in denselben Farben, dazu hohe schwarze Stiefel.
    Samstag lächelte wie stets, doch als Adam an Ort und Stelle ankam, war von dem Lächeln nur noch eine Grimasse übrig: eine grauweiße Zahnreihe, gepresst in ein Gesicht, das aussah, als wäre es im Begriff, sich aus seiner Halterung zu lösen.
    Wo ist die Liste?
, sagte Samstag lediglich.
    Adam vermochte seinen Körper nicht still zu halten. Der ständig bohrende Hunger, die Erschöpfung und Angst ließen Krämpfe in langen Wellen von den Beinen zu Brust und Schultern hinauflaufen. Er |517| versuchte den Kopf zu schütteln, klapperte aber nur mit den Zähnen, was den »neuen« Samstag rasend machte.
    Adam fühlte sich gegen die Wand gedrückt:
    Wo?
, schrie Samstag, Speichel spritzte über seine Lippen.
    Wir wissen, dass du Lajb getroffen hast, wo ist die Liste …?
    Und noch ehe er überhaupt antworten konnte:
    Du lügst! Warum lügst du?
    Adams erster Impuls war, einfach in die Knie zu gehen. Jankiel war schließlich tot. Was spielte es für eine Rolle, wenn sein oder auch der Name irgendeines der anderen Arbeiter auf einer Liste gefunden wurde? Warum sollte er Samstag das Verlangte nicht einfach geben?
    Samstags Wut aber schien in keinem Verhältnis zu stehen zu dem, worum er bat. Überdies – war es nicht etwas seltsam, dass die Behörden ihren jüdischen Ordnungsdienstkommissar als Eskorte begleiteten? Wenn die Behörden ihren domestizierten Untertanen nicht mehr vertrauten, wem konnte man dann überhaupt noch trauen? Und wem sollte Adam seinerseits vertrauen?
     
    Im Büro der Gärtnerei hatte Feldman Feuer im Kanonenofen gemacht. In den Ritzen der rostigen Blechhülle loderten bleiche Flammen, vor dem matten Sonnenlicht scheinbar leblos.
    Samstag hatte sich hinabgebeugt und fuhr mit dem Schürhaken zwischen den glühenden Holzscheiten umher. Adam stand mit dem Rücken an der Wand und blickte auf den gekrümmten,

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