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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Lächeln, um sich im nächsten Augenblick in blutig scharfem Hass zu verschließen. Lajb selbst – oder was von seiner Stimme über dem Getöse all der Tiere noch übrig ist – spricht jedoch in ruhigem, fast väterlich predigendem Ton. Als gehe es bei all dem nur um eine Art praktischer Handhabung. Und
müde
– ja, selbst der ständig wachsame Überwacher Lajb ist müde, jetzt, wo es Zeit ist, das Resultat seiner Arbeit an jemanden zu übergeben, der nach ihm weitermachen kann:
     
    Adam, hör jetzt genau zu –
    Wenn dein Name auf die Liste der aus dem Getto zu Deportierenden kommt, darfst du nicht gehorchen, sondern nimm stattdessen
|508|
dieses Geld hier und versuche, einen sicheren Platz zu finden, wo du dich verstecken kannst.
    Bitte Feldman – er wird dir helfen.
    Sie werden sagen, dass alle Gettobewohner an einen anderen, sichereren Ort umziehen sollen. Sie werden sagen, das Getto liegt zu nahe an der Front. Dass es hier nicht sicher ist. Aber es gibt keinen sichereren Ort als diesen. Einen solchen hat es nie gegeben.
    Es gibt überhaupt keinen anderen Ort als diesen hier.
     
    Adam versucht, die Geldbündel und handgeschriebenen Hefte, die ihm Lajb gereicht hat, wegzulegen. Doch in diesem Raum gibt es keine freie Fläche, auf der man etwas ablegen könnte. Und als er das schließlich begreift, hat er schon zu lange gezögert.
    Als Adam hinter seinem Onkel nach draußen kommt, ist Lajb bereits auf halbem Weg zur Zagajnikowa hinunter. Erst jetzt sieht Adam, was er, ohne darüber nachzudenken, die ganze Zeit gesehen hat. Lajb geht barfuß durchs Wasser. Er besitzt die Schuhe nicht mehr, auf die er einst so stolz gewesen ist.

 
    |509| Bereits am selben Abend, nachdem sich Józef Feldman im Büro draußen in seine Schlaffelle gewickelt hat, holt Adam eine Lampe und liest die Namen auf Lajbs Liste.
    Es sind insgesamt zwölf Hefte, und sie enthalten die Überprüfung von rund einem Dutzend Werkstätten und Fabriken, sortiert nach Straßennamen und Hausnummern. Die Zentralschneiderei in der Łagiewnicka ist
die Zentrale
. Die Schneiderwerkstätten in der Jakuba sind
Jakuba 18
beziehungsweise
Jakuba 15,
die Strumpffabrik in der Drewnowska ist
Drewnowska 75
. Lajb hat seine Angaben mit stumpfem Bleistift auf linierten gequollenen Seiten geführt. Am Rand stehen zuweilen die Namen von Kontaktpersonen, die ihn mit den Informationen versorgt haben. Die Buchstaben sind klein und prägnant geformt: so als strebe er auf möglichst engem Raum größtmögliche Deutlichkeit an.
    Unter jedem Ressort folgt, in alphabetischer Reihenfolge, eine große Anzahl Arbeiternamen. In manchen Fällen sind auch die Wohnadressen der Arbeiter aufgeführt, dazu Angaben über die Familienverhältnisse sowie über politische und religiöse Zugehörigkeit.
Bolschewismus
taucht am häufigsten auf; die Abkürzung
PZ
steht für
Poale Zion
,
O
bedeutet
orthodox
(
Ag I
=
Agudat Israel
), während
Bundisten
lediglich durch ein
B
mit dickem, querlaufendem Strich markiert werden.
    Adam blättert die handgeschriebenen Seiten durch; vorbei an der Sattlerwerkstatt, in der Lajb nach Beendigung seiner Tätigkeit in der Möbeltischlerei auf der Drewnowska gearbeitet haben muss; an der Nagel- und Zweckenfabrik und Iźbickis Marysińer Schuhfabrik, um letztlich zur Be- und Entladeabteilung in Radogoszcz zu kommen. Doch unter welchem Namen hat Lajb da eine Anstellung gehabt? Und wie hat er Monat für Monat, womöglich sogar jahrelang, dort arbeiten können, ohne dass Adam oder ein anderer ihn wiedererkannte?
    |510| Auf der Seite der Radogoszcz-Brigade sind im Heft gut fünfzig Namen vermerkt, mit den meisten von ihnen ist Adam gut vertraut:
     
    Marek Szajnwald – 21 Jahre – Marysińska 25; genannt »M mit dem Klumpfuß«; auch »der Tatar« genannt
(Adam hatte ihn nie anders als Marek oder Marku nennen hören)
    Gabriel Gelibter – 34 Jahre – genannt »der Doktor«
(weil er einmal geholfen hatte, einen Mann zu verbinden, der mit der Hand in einen Schraubstock geraten war)
, früher Mitglied von PZ
    Pinkus Kleiman – 27 Jahre – bekannter Bolschewik; früher im Aufräumkommando; lernte dort Sefardek kennen
     
    Und dann natürlich Jankiel:
     
    Jankiel Moskowicz – 17 Jahre – ehem. Gordonia-Aktivist, jetzt Kommunist, Marysińska 19. Wohnt zusammen mit Mutter und Vater.
    Bekannter Handlanger von Niutek R. Keine Geschwister (Vater:
Adam
M., Vorarbeiter in der Brzezińska 56 – Schwachstromfabrik
)

 
    |511| Adam stand oben auf der Rampe und sah

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