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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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gesehen, seit dem Tag, als Biebow den Befehl erteilt hatte, den Palast zu zerstören. Aleks aber hatte sich nicht sonderlich verändert. Er war stets mager gewesen, nun war er noch magerer, das Gesicht gleichsam um Stirn und Jochbein zugeschnitten. Die Augen aber waren dieselben. Sie starrten sie mit wachsender Verwunderung an, als erstaune es ihn in diesem Moment am meisten, dass sie einander wiederbegegneten.
    Zehn Monate hatte sie mehr oder weniger eingeschlossen im Keller unter dem Archiv gehockt und aus Mitteilungen, die sie oder andere ihrer Gruppe hatten aufschnappen können, ein Puzzle gefertigt. Selbst wenn sie nichts erfuhr, zwang sie sich, etwas in ihr Tagebuch zu schreiben. Sie notierte Regen oder Schneefall und die Farbe des Himmels. Sie notierte die Zahl der Fliegeralarme, durch die sie nachts geweckt wurden. Die Sirenen, die durchs Getto heulten, und das Licht der gewaltigen Scheinwerferpendel der deutschen Luftabwehr, die vom Himmel fielen und plötzlich ein Dach, eine Giebelwand, eine menschenleere Straße aus der Gettofinsternis hoben, die sie ständig umgab.
    In erster Linie aber notierte sie, was die Nachrichtensprecher sagten. Die Stimmen aus dem Radio waren dünn und nadelspitz, ständig von statischem Rauschen überspült: hohe pfeifende, seltsam wogende Tonwellenbewegungen, die sie an große vibrierende Fassreifen denken ließen, die durch die Luft gerollt kamen.
    Am Ende gelang es ihr dennoch, zumindest ein wenig des gewaltigen vorbeirauschenden Informationsstroms zu erfassen und die Worte auf dem Papier niederzuschreiben. Sie benutzte den Zitatcode, den Aleks |521| und sie im Voraus abgesprochen hatten. Am Tag, als alliierte Truppen zum ersten Mal auf der Apenninenhalbinsel landeten – im September 1943 –, nahm sie einen alten Baedeker-Atlas zur Hand, in dem sie auch später immer die Orte ankreuzte, an denen die Schlachten geschlagen wurden, einschließlich der bei Monte Cassino. Aus einem Band mit berühmten Gedichtzitaten übertrug sie Zeilen von Ovid, Seneca und Petronius, so dass man der weiteren Entwicklung des Feldzugs aus der Distanz zu folgen vermochte:
    Omnia nunc fient, fieri quae posse negabam.
    »Alles wird jetzt geschehen, von dem ich sagte, es könne nicht geschehen.«
    Wer erfahren wollte, was sie wusste, hätte in der Kellerbibliothek Buch für Buch aus den Regalen reißen und Seiten und Kartonbogen aus Heften und Mappen herauslösen müssen. Nicht einmal das würde genügen, da die Wörter und Sätze allesamt chiffriert und die von Aleks gezeichneten Karten in derart viele kleine Fragmente aufgestückelt und in so viele verschiedene Bände eingeklebt waren, dass sie sich nicht einmal zusammenfügen ließen, wenn man das Gesamtbild bereits im Voraus kannte. Ein sorgfältig errichtetes Gebäude. Indem sie es so exakt wie möglich baute, hoffte sie, es könnte der Wirklichkeit derart gleichen, dass die Grenzen zwischen der Welt draußen und dem Getto, in dem sie sich befand, wenn schon nicht verschwanden, so doch wenigstens nicht mehr im gleichen Maße sichtbar waren.
    Ein unmögliches Projekt, natürlich.
    Die Wände aber wurden immer dünner.
     
    Eines Morgens hörte sie Maman erneut Klavier spielen. Sie spielte auf dem alten Pleyelklavier. Das war das Instrument, das in der Wohnung am Prager Riegerpark gestanden hatte, bevor sie sich den großen Flügel anschafften. Věra erkannte den trockenen Klang mit gleicher unmittelbarer Deutlichkeit wieder wie das leise Rascheln vom Kleid der Mutter, als sie sich über die Tasten beugte und die Innenseiten der Ärmel das Oberteil berührten. Es waren einfache Übungsstücke –
Papillons
und
Kinderszenen
.
    *
    |522| Sie waren vier Nachrichtenhörer in der Gruppe, zu der Věra gehörte. Sie kannte die Namen der anderen, viel mehr aber auch nicht. Meist erfuhr sie nicht, wann oder wo gelauscht werden sollte, bevor sie hinbestellt wurde. Für die Nachrichtenhörer galten nur wenige feste Regeln, eine aber befolgten sie strikt: Wenn man als Gruppe lauschte, traf man nur zusammen, wenn der Leiter der Gruppe rief.
    Es gab auch einzelne Personen, die Nachrichten hörten – die sogenannten
Solitäre
.
    Solitäre waren jene, die bereits vor dem Krieg ein Radio im heimischen Keller besessen oder die einen kleinen Apparat mitgebracht hatten, als sie hierher deportiert wurden, und ihn nicht abgegeben hatten, als die Anweisung dazu erging, obgleich es mit Lebensgefahr verbunden war, das Gerät zu behalten. Věra war überzeugt, dass es im

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