Die Elenden von Lódz
Lippen biss, als versuchte er auch noch das kleinste gesagte Wort im Gedächtnis festzuhalten.
Vielleicht baute auch Hahn insgeheim ein inneres Archiv auf über das, was an den großen Frontabschnitten geschah.
Genau wie sie es tat. Oder der legendäre Chaim Widawski.
Widawski
. Anfang 1944 war er gerade vierzig Jahre alt, Junggeselle; wohnte zusammen mit seinen Eltern in einer engen Wohnung an der Podrzeczna, die sich auch zwei seiner Cousins mit ihnen teilten.
Widawski war als Inspektor bei der Karten- und Talonabteilung des Gettos (
wydział-kartkowy
) angestellt. Von hier aus teilte man die Lebensmitteltalons für das Getto aus. Er bekleidete also in aller Stille einen der wichtigsten Posten im gesamten Getto. Talons für Brot, Milch, Fleisch und Gemüse im Wert von mehreren tausend Mark gingen tagtäglich durch Widawskis Hände, erstaunlicherweise aber scheint ihm nie der Gedanke gekommen zu sein, seine Position auszunutzen, um sich Macht und Einfluss zu verschaffen.
Hingegen führte er Buch. Am Rand des großen Bürojournals, in das er die Kontrollnummern der geprüften Talons eintrug, standen vom Frühjahr 1943 an Ziffern- und Buchstabencodes, mit denen die Frontpositionen der deutschen und russischen Truppen angegeben wurden; wie weit bestimmte Armeen oder Armeekorps von strategischen Plätzen entfernt waren; Notizen über die Kräfteverhältnisse der entsprechenden |525| Armeen – beispielsweise wie gut bestückt die deutsche Panzer- und Artilleriedivision war, die nach der Niederlage bei Stalingrad General Schukows Gegenoffensive entgegentreten sollte.
Hier offenbarte sich ein seltsames Paradox. Obgleich Widawskis codiertes Kriegstagebuch in aller Heimlichkeit geführt wurde, wusste jedermann im Getto, dass man sich an Widawski wenden musste, wenn man Informationen darüber haben wollte, wie es an den verschiedenen Frontabschnitten
lief
. Wenn jemand
über neue Kriegsnachrichten verfügte
, dann Widawski. Dennoch schien niemand verstanden zu haben, dass er zu den Nachrichtenhörern zählte. Alle waren
absolut überrascht,
als diese Tatsache aufgedeckt wurde.
Es war, als gäbe es im Getto zwei gänzlich unterschiedliche Arten von Wissen; zwei Welten, die Seite an Seite existierten, ohne je miteinander in Berührung zu kommen.
Doch auch hier, zwischen diesen Welten, begannen die Wände nun dünn zu werden.
*
Es geht alles vorüber
Es geht alles vorbei
Auf jeden Dezember
Folgt wieder ein Mai
So hatte er geschrieben, mit eng zusammengerückten Buchstaben, um sie alle auf dem fettigen braunen Fetzen Umschlagpapier unterzubringen, der vermutlich als Einziges zur Hand gewesen war; die charakteristische, leicht vorgeneigte Handschrift war noch immer ungebrochen. Am Monatsende hatte der Zettel eines Morgens auf ihrem Schreibtisch gelegen und war einer der zahllosen Beweise dafür, dass Aleks die Fähigkeit eines echten Ausbrecherkönigs besaß, durch beliebig viele zugeriegelte oder zugekettete Türen zu gelangen, um seine Mitteilungen an den Mann zu bringen. Denn seit sie bei den Radiohörern war, hatte ansonsten absolut niemand den mit Büchern ausgekleideten Kellerraum unterm Archiv betreten. Das wusste sie, denn Herr Szobek, ein orthodoxer Jude, der jahrelang als Archivaufseher tätig und außer ihr |526| der Einzige war, der hierfür Schlüssel besaß, war am Ende von der Tuberkulose überwältigt und in die Klinik an der Dworska eingeliefert worden.
Doch hatte es etwas Besonderes auf sich, gerade mit diesem deutschen Schlager, den sie und bestimmt auch er mehrmals auf deutschen Sendern gehört hatten:
Auch noch lange nach dem Einmarsch der Deutschen (hatte Aleks ihr einmal erzählt) sangen die
Getto- shomrim
abends in den Kollektiven deutsche Schlager; überdies auf
Deutsch
, wie um zu betonen, dass die begehrte Befreiung für alle Menschen aller Nationen galt. Wenn Aleks an sie appellieren wollte, ihn dort draußen in der Verbannung zu besuchen, hätte er es nicht besser und deutlicher formulieren können.
Marysin im Mai.
Der Kontrast hätte nicht größer sein können zwischen dem Lärm und Gehetze im Inneren des Gettos, wo nun jedes Ressort an der Produktion von Speers Behelfshäusern beteiligt war, und der alten Gartenstadt, die nach nächtlichen Regenschauern zu neuem Leben unter blühenden Kirsch- und Apfelbäumen erwacht war. Nur wenige hundert Meter von dem Pfuhl an der Dworska entfernt, an dem »die Stadt« offiziell endete, folgten schnurgerade Reihen sorgfältig
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