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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Archiv, in dem sie arbeitete, mehrere solcher Solitäre gab. Sie meinte in deren Gesichtern eine ebensolche Freude zu erblicken, wie sie sie jedes Mal empfand, wenn die Alliierten vorrückten oder eine strategisch wichtige Festung einnahmen. Viele der Solitäre redeten nicht über das, was sie erfuhren. Doch es gab auch andere, die unablässig plauderten. Auf diese Weise sickerten Nachrichten über den Krieg ins Getto durch. Wenn Chaim Widawski und die anderen »richtigen« Hörer etwas fürchteten, dann nicht die Denunzianten der Sonder – die inzwischen in jedem Treppenwinkel hockten –, sondern dass all dieses Geschwätz über den Krieg, die Russen, darüber, wo sie sich gerade befanden und was sie taten, die Kripo früher oder später auf die Spur derjenigen bringen würde, die
mehr
wussten, jedoch nichts sagten.
    Chaim Widawski und Aron Altszuler bildeten zusammen mit Icchak Lubliński und den drei Brüdern Weksler eine Gruppe. Draußen in Marysin gehörte Aleks Gliksman einer weiteren Gruppe an; und um den Apparat in der Brzezińska bildete Věra zusammen mit zwei polnischen Juden namens Krzepicki und Bronowicz und einem »Deutschen« namens Hahn eine dritte.
    Und dann war da noch der Knabe Shem als
goniec,
der mit einem Bescheid durchs Getto lief, wenn einer von ihnen krank oder verhindert war oder wenn sie den Zeitpunkt oder sogar den Ort ändern mussten, weil die »Station«, an der sie lauschten, unter Bewachung stand.
    |523| Alle Gruppen hatten solche Laufburschen, die nicht unbedingt in das eingeweiht waren, was zwischen den anderen Nachrichtenhörern ablief. Je weniger diese Jungen wussten, desto besser.
    Was dieser Shem wusste oder nicht wusste, würde Věra nie erfahren. Shems eines Bein war steif, oder es war schief gewachsen. Er bewegte sich vorwärts, indem er die gesunde Hüfte vorschob und das kranke Bein nachschleppte, und aus diesem Grund lief er oft gekrümmt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, wie in ständig unterwürfiger Haltung. Die ganze Zeit aber lächelte er mit zusammengekniffenen Augen: als befände er sich in einem Zustand listiger oder vielmehr billigender Erwartung. (Věra wusste kaum mehr über Krzepicki oder Bronowicz – begriff kaum, was sie sagten, da sie ausschließlich Jiddisch oder Polnisch sprachen. Nicht einmal über Hahn wusste sie Genaueres, obgleich er mit einem der Transporte aus Berlin gekommen war und also einer »ihrer Sorte« sein musste.)
    Hauptsächlich bekamen sie polnischsprachige Nachrichten aus London herein, ab und an aus Moskau. In diesen Fällen saß Krzepicki mit den Kopfhörern da. Es war jedoch nicht leicht, die richtige Frequenz zu finden. Die deutschen Sender in Posen und Litzmannstadt brachen mit einem »Symphoniekonzert« tosend dazwischen, oder deutsche Nachrichtensprecher berichteten mit sich überschlagender Stimme von neuen Erfolgen an der Ostfront, wo es dem stolzen deutschen Heer in harten Kämpfen – immer waren es »harte Kämpfe« – gelungen war, die bolschewistischen Angreifer zurückzuschlagen.
    Věra versuchte sich die Namen der genannten Orte einzuprägen, um diese auf die Loseblätterkarte von Aleks zu übertragen, doch schaffte sie es nur, einige wenige aufzuschnappen, bevor der Sprecher zu einer anderen Rubrik wechselte, genannt
Außenpolitische Berichte,
die stets davon handelten, welche Diplomaten und Minister in Berlin zusammengetroffen waren, und jedes Mal mit langen entrüsteten Attacken auf den
Totengräber des britischen Imperiums
oder den
gemeinen englischen Gauner
endeten, wie Winston Churchill genannt wurde, und Věra lauschte und hoffte, zumindest andeutungsweise zu erfahren, worin Churchills
Lügen und Betrügereien
konkret bestanden. Doch das kam nie zur Sprache. Der Nachrichtensprecher begann von Flottenmanövern |524| in der Ostsee zu sprechen, oder die Nachrichten wechselten zu einem Beitrag, in dem eine über lange Erfahrungen verfügende Krankenschwester sanitäre Ratschläge zum Reinigen und Verbinden von Wunden gab.
     
    Hinterher redeten sie nie über das Gehörte. Wer gerade an diesem Tag die Kopfhörer trug, übersetzte für die anderen. Keiner notierte oder schrieb etwas auf. Die unausgesprochene Regel lautete, dass es keine schriftlichen Spuren ihrer Tätigkeit geben durfte – alle Neuigkeiten gingen von Mund zu Mund. Doch wenn es Krzepicki gelungen war, die BBC oder die Amerikaner hereinzubekommen, und Věra mit den Kopfhörern dasaß, konnten alle sehen, wie Werner Hahn nickte und sich auf die

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