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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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ausgemessener und aufgeteilter Anbauflächen. Das gesamte Gebiet ab der Marysińska und dann die Bracka und die Jagiellónska hinunter glich einem einzigen grünenden Gartenland, bei dem jedes Stückchen Erde mit adretten Reihen dünner Holzstäbe ausgestattet war, die zarte Pflanzenstengel aufrecht hielten. Manche der Anbauflächen waren so winzig, dass fast aller Platz von kleinen Frühbeeten besetzt wurde, die man auf sinnvoll erdachte Weise neben- oder übereinandergestapelt hatte, damit jede Kiste in den Genuss von möglichst viel Sonnenlicht gelangte.
    Im Nachhinein sollte sie sich an diesen Tag erinnern, als einen der letzten, den Aleks und sie gemeinsam im Getto verbrachten.
    Aleks hatte ihre Parzelle inspiziert, wie er das ihr und ihren Brüdern zugeteilte Bodenstück scherzhaft nannte, ebenso die Bewässerungsanlage, die Martin und Josel gebaut hatten und die jetzt nicht nur ihr eigenes Stückchen, sondern auch mehrere der benachbarten bewässerte. |527| Im Anschluss daran waren sie, nur sie beide, durch die schmalen Gassen von Marysin spazieren gegangen.
    Der Himmel war ein Segel aus blendendem Blau. Lerchen tirilierten hoch in der Luft, als hingen sie vibrierend an unsichtbaren Fäden.
    Das Gras war warm.
    (Als sie von diesem »Ausflugstag« in ihrem Tagebuch berichtete, dachte sie, dass sie nie zuvor, nicht einmal in Prag, wenn sie mit ihren Brüdern auf Wanderungen in den Hügeln vor Zbraslav unterwegs gewesen war, die Natur so gesehen hatte, als verfügte sie über menschliche Attribute. Wie Haut, Haar oder zurückgelassene Kleider. So aber ging es ihr mit dem, was an diesem Tag vom Gras im Getto übrig war. Es war
warm
; körperwarm, beinahe wohlig.)
    Aleks erzählte, wie die Arbeit draußen in der Zement- und Holzspanfabrik von Radogoszcz weiterlief; wie er und die anderen seiner Arbeitsbrigade allmorgendlich vom Ordnungsdienst abgeholt und abends zurückeskortiert wurden. Aus irgendeinem Grund, der ebenso ein Zufall sein konnte, war die gesamte Arbeitsbrigade im selben Gebäude in der Próżna untergebracht, in dem sich die
shomrim
des Gettos vormals aufzuhalten pflegten. Dahin führte Aleks sie nun auch. Es war Sonntag, der einzige arbeitsfreie Tag der Woche. Unter den hier wohnenden Arbeitern erkannte Věra mehrere frühere Archivangestellte oder bei der Post Beschäftigte wieder, denen sie häufig in den Treppenaufgängen oder in den Schlangen an den Verteilungsstellen um den Baluter Ring begegnet war; nun waren sie womöglich noch magerer, trugen löchrige, halbzerfetzte Kleider und Schuhe, die vornehmlich aus schmutzigen zusammengebundenen Lappen bestanden. Bei weitem nicht alle waren überzeugte Zionisten, das hatte ihr Aleks schon auf dem Weg hierher genauestens erklärt. Als ob das eine Rolle spielte! Hier saßen sie jedenfalls, Arbeiter
aller
Schattierungen des Gettos, zusammengepfercht unter demselben tropfenden Dach. Věra holte ein wenig von dem aus der Tasche, was ihre Brüder und sie auf ihrem Bodenstück hatten anbauen können: ein paar starre Kartoffelknollen, Gurken, Radieschen, auch von Martin und ihr Eingemachtes, das sie als sogenannten Wintervorrat beiseitegestellt hatten – Rote Beete und Weißkohl. Andere aus der Brigade holten dazu, was sie besaßen. Brot gab es; und etwas, das |528|
babka
oder
lofix
hieß und aus normalem, in Stärke verrührtem Ersatzkaffee bestand und, wenn es steif geworden war, wie zu Kuchenstücken aufgeschnitten wurde.
    Dann saßen sie im Schein des Brennofens, der in der Mitte des gewaltigen Raumes stand, und sprachen über die Kampagne, die die kommunistischen Bahnhofsarbeiter in Gang gesetzt hatten. Für diese gab es einen Code, der von Mund zu Mund ging, sobald eine neue Wagenladung eintraf:
    Pracuj powoli …!
»Arbeitet langsam.« Es ging darum, sich mit möglichst wenig Anstrengung durch jede in die Länge gezogene oder verzögerte Schicht zu schleppen.
    Es war auch Anweisung ergangen, das Anstellen zur Mittagssuppe zu verweigern.
    Unter der deutschen Wachmannschaft des Bahnhofs herrschte Verwirrung. Der Bahnhofsvorsteher war zu Biebow gegangen und hatte geklagt, die Juden seien träge geworden, so dass wertvolle Ladung liegen blieb. Es wurde sogar diskutiert, ob man den Nährstoffgehalt der Suppe nicht erhöhen müsste – mit anderen Worten aufhören sollte, sie
durchzuseihen
. Eines Tages war Biebow sogar persönlich hinausgefahren, um den Arbeitern ins Gewissen zu reden. Von Seiten der Behörden soll obendrein erwogen worden sein, ob die

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