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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Arbeit nicht schneller vonstatten ginge, wenn man über die Lautsprecher Marschmusik ertönen ließe!
    Alle lachten darüber, bis Aleks plötzlich sagte, er jedenfalls habe beschlossen, sich den Kommunisten anzuschließen; Niutek Radzyner und die Männer um ihn seien die Einzigen im Getto, die dem Präses zumindest ein wenig Widerstand entgegensetzten. Ein anderer hielt dagegen, worauf eine hitzige Diskussion ausbrach, die andauerte, bis die Dunkelheit dem mit schwirrenden Insekten gefüllten Vorsommerhimmel alles Licht entzog und die Funken des Brennofens im Luftzug hoch aufstiegen zu einer in der Dämmerung fast unsichtbaren Rauchsäule. Und dann plötzlich, gänzlich spontan, stimmte jemand ein Lied an, und ein anderer fiel zögernd ein; und dann sangen plötzlich alle, erst leise, allmählich aber immer lauter, immer hartnäckiger:
    |529|
Men darf zi kemfn
    Schtark zi kemfn
    Oj as der arbajtar sol nischt lajdn nojt!
    Men tur nischt schwagn,
    Nor hakn schabn;
    Oj wet er erscht gringer krign a schtikl brojt
14
    In jener Nacht, eingehüllt in Aleks’ schweren grauen Mantel, der streng nach Kohlengrus und altem Schweiß roch, eng gepresst an seinen Körper, um in der Kälte warm zu bleiben, sprach sie flüsternd zu ihm und suchte seinen Blick, diese
Aleks-Augen
, zuweilen so müde, doch zugleich so wach und aufmerksam.
    Als er sah, dass sie ihn anschaute, lächelte er leise und sagte ihren Namen, einmal, ganz still.
Věra
, sagte er nur, als wären die beiden Silben ihres Namens etwas, das sich behutsam auseinandernehmen und ebenso behutsam wieder zusammenfügen ließ. Statt zu antworten, beugte sie sich vor und formte ihre Hände um sein Gesicht. Sie dachte, endlich befand er sich nun wieder in Reichweite ihrer Arme: greifbar.
    Und in diesem Moment spürte sie intensiv, dass sie sich nicht nur nach all dem sehnte, was er ihr zu sagen hatte, nach all den verbotenen Mitteilungen, die er zwischen Papierbogen und in die Bücher legte, die er heimlich in ihren Kellerraum brachte. Sondern nach dem ganzen Mann, nach allem, was er war – seinem blassen Gesicht und den unbegreiflich schmalen Schultern – sie umfasste sie – und auch seinen Rücken umfasste sie und seine Hüften und seine Taille. Sie konnte nicht anders. Sie wollte ihn besitzen. Wenn die Bolschewiken jemals kamen und sie befreiten, war es das Einzige, was sie wollte. Sie wollte ihn begehren, wie sie nie jemanden in ihrem Leben begehrt hatte, und nie |530| hätte sie geglaubt, dass es überhaupt möglich war, jemanden in diesem Land des Hungers und der Verbannung so zu begehren.
    *
    Sie nannten ihn »den Knaben Shem«; er war ihr Leibwächter und Rattenfänger und derjenige – davon war Věra im Nachhinein vollkommen überzeugt –, der sie allesamt im letzten Augenblick gerettet hatte.
    Im zweiten Geschoss des Hauses in der Brzezińska, auf deren Trockenboden sie nach wie vor Schmieds Radio aufbewahrten, wohnte ein gewisser Szmul Borowicz. Früher einmal, prahlte Borowicz, sei er ein hochgestellter Beamter der Abteilung für Lebensmitteldistribution gewesen, habe eine Dreizimmerwohnung besessen und sich sogar leisten können, ein Dienstmädchen zu halten. Doch nach dem Fall des Palastes hatte Borowicz seine »feine« Anstellung verlassen müssen, und wie so viele andere in diesen unsicheren Tagen hatte er sich von der Sonder anwerben lassen, in der er rasch aufgestiegen war, und nun bestand er darauf, sich »Hauptmann« nennen zu lassen.
    Ab und an kam die Kripo, um Borowicz zu verhören. An solchen Tagen knallten die Türen, denn die Deutschen verlangten, Borowicz solle mit den Schlüsseln durchs Haus hasten und den Inhalt verschiedener Keller- und Wohnungskammern vorführen. Doch endete es nie damit, dass Borowicz selbst festgenommen oder auch nur zu weiteren Gesprächen einbestellt wurde. Aus dieser Tatsache schlussfolgerte jedermann im Haus, dass Borowicz als Spitzel tätig war.
    Auf diese Weise war der Knabe Shem ins Bild gekommen. Shem wohnte mit seinem Vater im dritten Stock des Hauses, in der Wohnung über Borowicz. Wenn die Kripo ihre Besuche machte, folgte der Knabe Shem Borowiczs Tun mittels eines Taschenspiegels, den er vor dem Fenster montiert hatte, oder indem er vorgab, selbstgebaute Rattenfallen vor der Tür des Hausmeisters aufzustellen, und an der Schwelle lauschte. Einmal hatte er im Spiegel gesehen, wie sich die in Zivil erschienenen Kripoleute um einige Papierseiten scharten, die Borowicz auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Er hatte

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