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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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|533| zerrte, nur am Herauskommen hinderte? Oder ob es hingegen Angst war, die ihm all diese Fesseln anlegte? Jedenfalls sah sie seinen Körper, gespannt wie eine Stahlfeder, hinter den Bretterwänden des Schuppens stehen. Im nächsten Augenblick sah sie ihn nicht mehr. Und Krzepickis Gesicht zeigte nun pure Angst:
    Schhhhh! Mir musn awek, di kumt schojn!
    Aber da war es bereits zu spät:
    Der Knabe Shem hatte sein lahmes Bein hinter sich hergezogen (sie konnten die Spuren in dem vom Regen halb aufgelösten Lehmboden des Hofes bis zur Straße hinaus sehen), und genau dort, wo sich die Marynarska und die Brzezińska kreuzten, stand er und schrie es direkt hinaus. Aus den Toren und Häusern rundum stürzten Leute mit ausgebreiteten Armen. In einem Augenblick schwindelerregender Klarheit verstand Věra, dass sie natürlich allesamt Nachrichtenhörer waren – Solitäre, die dieselbe Kunde wie sie vernommen hatten und nun aus dem Haus liefen, um sie mit anderen zu teilen. Tief unten in dem Knäuel schreiender, sich umarmender und küssender Menschen lag der Knabe Shem, in den Schlamm gedrückt von seiner eigenen formlosen Schwere und dem lachenden Haufen über ihm.
    Krzepicki und Bronowicz machten diesmal nicht einmal den Versuch, den Apparat zurück in den Koffer zu stopfen. Sie flohen lediglich. Werner Hahn half ihnen über den niedrigen Holzzaun, was sie vermutlich rettete. Im nächsten Augenblick kam die Sonder angestürmt, um den jubelnden Haufen auf der Marynarska aufzulösen, in vorderster Linie Hauptmann Borowicz, der den Knaben Shem natürlich als Ersten erkannte.
    Wenn er jemanden erkannte, dann den Knaben Shem.
    *
    Dennoch war es nicht der Knabe Shem, der sie verriet.
    In den Folterkammern des Roten Hauses sagte er nicht ein Wort. Auch nicht bei der Gegenüberstellung, wobei sie eine Handvoll gänzlich unschuldiger Menschen vor ihm aufreihten und sagten, die würden sie allesamt töten, wenn er nicht berichtete, wer die »Verräter« seien. |534| Nicht einmal, als man ihn mit auf dem Rücken gefesselten Händen zum Hof hinausführte und ihn vor den Leichen der soeben hingerichteten anderen Nachrichtenhörer auf die Knie zwang, machte er den Mund auf.
    Du kriegst eine letzte Chance!
, hatte der Kripo-Kommissar gesagt und die Pistole an seiner Schläfe entsichert.
Gib uns die Namen deiner Kumpane, und wir lassen dich gehen.
    Mit ängstlich mahlendem Unterkiefer schwieg der Knabe Shem jedoch hartnäckig weiter.
    Derjenige, der Widawski verriet, war ein Mann namens Sankiewicz. Jahrelang hatten Widawski und Sankiewicz benachbart in der Podrzeczna gewohnt. Sie waren nicht eng befreundet, doch hatten sie sich stets gegrüßt und ein paar gutgemeinte Worte gewechselt. Sankiewicz war beispielsweise einer jener, die sich an Widawski wandten, um zu erfahren, wie es mit der »Weltlage« stand. Von seinem Fenster aus hatte er penibel beobachtet, zu welchen Tageszeiten Widawski kam und ging und mit wem er kam und ging. Obgleich jedoch alle im Viertel wussten, dass Sankiewicz ein Spitzel der Kripo war, hätte niemand je geglaubt, er könnte derjenige sein, der Widawski verraten würde.
    Da waren sie wieder, die zwei Welten.
    Gegen sechs Uhr morgens am Tag nach der Landung der Alliierten in der Normandie schlug die Kripo zu. Mojżesz Altszuler saß mit seinem sechzehnjährigen Sohn beim Frühstück, als die Polizisten hereingestürmt kamen, und natürlich bestritt er entschieden jegliche Verbindung mit irgendwelchen Nachrichtenhörern. Da nahm die Kripo seinen Sohn Aron mit in ein Zimmer nebenan und wartete, bis der Vater die Schreie nicht mehr ertrug, sondern aus einer Nähmaschinenlade die Teile eines Empfangsgerätes der Marke Kosmos holte. Mojżesz Altszuler, der von Hause aus Elektriker war, hatte die Kopfhörer aus Kupferdraht selbst gefertigt, diesen hatte er, wie sich später herausstellte, aus der Schwachstromfabrik, in der er arbeitete, gestohlen.
    Von Altszulers in der Wolborska begab sich die Polizei in die Młynarska, wo sie sich mit Hilfe des Hausmeisters Zutritt zu einer Wohnung verschaffte, die einem gewissen Mojsze Tafel gehörte, den sie sozusagen
in flagrante delicto
ertappten. Tafel hatte die Kopfhörer auf |535| und hob bei seinem intensiven Lauschen nur kurz den Blick, als die Polizisten ihn umringten.
    Nach Mojsze Tafel wurde ein gewisser Lubliński auf der Niecala ergriffen; dann die drei Brüder Weksler – Jakub, Szymon und Henoch – in der Łagiewnicka. Doch war da noch dieser Chaim Widawski,

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