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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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dessen Namen bei jedem Verhör auftauchte.
    Am Morgen des 8. Juni begeben sich Kriminalkommissar Gerlow und zwei seiner Assistenten zu Widawskis Wohnung in der Podrzeczna, in der die angstvollen Eltern des jungen Mannes erklären, dass ihr Sohn zwar seit mehreren Tagen nicht daheim gewesen, dass er indes ein ehrlicher und rechtschaffener Mensch sei, der zweifellos nicht das Geringste mit irgendwelchen Nachrichtenhörern zu schaffen habe. Auch in der Talonabteilung sehen sich Widawskis Mitarbeiter zu der Erklärung gezwungen, dass sie den jungen Herrn Talonkontrolleur seit einigen Tagen nicht zu Gesicht bekommen haben, doch gewiss handele es sich nur um eine zeitweilige Abwesenheit aus Krankheitsgründen. Da beauftragen die Polizisten Widawskis Kollegen, sie mögen verbreiten, dass sie, wenn der auf der Flucht befindliche Verräter sich nicht unmittelbar stelle, nicht nur Widawskis Eltern, sondern auch sämtliche Angestellte der Abteilung festnehmen und sie einen nach dem anderen töten würden, bis sämtliche illegale Nachrichtenhörer gefasst wären.
    Dann gingen sie zum nächsten Namen auf der Liste weiter.
    *
    Věra schreibt. Den ganzen Tag sitzt sie dort unten zwischen aufgetürmten Büchern, Mappen und Alben und schreibt. Sie schreibt pausenlos und so rasch, wie sie es mit ihren schmerzenden Fingern nur vermag; auf leeres oder von der Rückseite bereits beschriebenes Papier schreibt sie, auf Karteikarten, auf die freien Titelseiten der Bücher oder auf den Rand alter Schreibhefte. Sie schreibt alles nieder, was sie jemals gehört hat oder glaubt, von dem, was die Nachrichtensprecher sagten, verstanden zu haben.
    Jedes Mal, wenn sie draußen auf der Treppe ein Scharren vernimmt oder meint, den Schatten eines sich bewegenden Körpers weiter oben |536| auf dem Treppenabsatz zu erblicken, kriecht sie in sich zusammen, wie um sich unsichtbar zu machen. Als sie das Scheppern des Essenwagens hört, begibt sie sich ins Archiv hinauf, nimmt ihren Platz in der Schlange ein und wartet auf ihre Kelle Suppe, ohne nach rechts oder links zu schauen, vor Angst, dass schon der kleinste Blick in irgendeine Richtung, ob zu Freund oder Feind, ausreichen könnte, um sie zu verraten.
    Sie denkt an Aleks. Ob ihnen auch dort draußen in Marysin die Zugriffe auf Altszulers und Wekslers bekannt waren und sie vielleicht wie Widawski versucht hatten, sich in Sicherheit zu bringen? Doch wohin hätte Aleks in diesem Fall gehen sollen? Schließlich leben sie in einem Getto. Wo sollte es ein sicheres Versteck geben?
     
    Als die Arbeitszeit um fünf Uhr beendet und die Kripo noch immer nicht aufgetaucht ist, packt sie ihre Sachen. Doch statt in ihren Hof einzubiegen, geht sie weiter die Brzezińska hinunter.
    An der Kreuzung, an der sie als Letztes gesehen hat, wie der Knabe Shem von jubelnden Solitären übermannt worden ist, steht eine Gruppe Menschen mit dem Rücken zu ihr. Sie hält sich eine Weile abseits, um sicherzugehen, dass keiner darunter ist, der im Haus wohnt und sie vielleicht wiedererkennen und anzeigen könnte. Am Ende fasst sie einen Mann vorsichtig beim Ellbogen, zieht ihn aus dem Haufen und fragt, was los sei. Der Mann mustert sie misstrauisch von Kopf bis Fuß. Dann scheint er sich plötzlich entschieden zu haben, und mit einer Stimme, nach außen vor Entrüstung bebend, nach innen aber stolzgeschwellt, weil er von dieser Sache berichten kann, lässt er sie wissen, dass einer der gesuchten Nachrichtenhörer – der Anführer persönlich! – heute Morgen Selbstmord begangen habe. Ein gewisser Chaim Widawski, falls der Name ihr etwas sage. Leute, die in der Nähe wohnen, hätten ihn die ganze Nacht vor der Wohnung seiner Eltern stehen sehen, ohne dass er sich habe entschließen können, ob er sich zu erkennen geben solle oder nicht. Gegen Morgen habe ihn jemand in der Manteltasche wühlen sehen und gedacht: Jetzt gibt er auf, jetzt geht er endlich ins Haus und in die Wohnung hoch, doch sei er erst auf halbem Weg zum Tor gewesen, als das Gift schon gewirkt habe und er umfiel;
Blausäure
, sagt der Mann und nickt wissend, das Gift habe er die ganze Zeit bei |537| sich gehabt. Starb direkt vor den Augen seiner Eltern, so war es; sie sahen ihn beide vom Fenster aus.
    Věra fragt, ob auch in diesem Haus, wo sie jetzt stehen, Verhaftungen vorgenommen würden, und der Mann erzählt, dass die Kripo auch hier gewesen sei und dass sie in einem Kohlenkeller im Haus jenseits des Hofes ein Radio gefunden habe, äußerst listig in einem

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