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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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alten Koffer versteckt. Zwei Männer habe man bisher festgenommen – einen schmächtigen, akrobatischen Typen; und einen deutschen Juden, der bereits als Besitzer des Reisekoffers identifiziert worden sei. Sein Name und seine frühere Berliner Adresse seien auf einem Etikett auf der Innenseite des Kofferdeckels zu lesen gewesen.
     
    Doch von Aleks kein Wort.
    Wenn sie ihn nicht verhaftet haben, gibt es nur noch einen einzigen Ort, an dem er sein kann; in dem alten Haschomer-Gebäude in der Próżna. Auf halbem Weg hinaus nach Marysin übermannt sie erneut der Hungerschwindel. Die Welt gerät auf die ihr bekannte Weise ins Gleiten, ihr wanken die Knie, sie wird matt und ihr Mund ist gänzlich trocken. Sie setzt sich auf einen Stein am Straßenrand und wickelt den Brotbissen aus dem Taschentuch, den sie für Fälle wie diesen stets bei sich trägt. Doch nicht nur Kraftlosigkeit übermannt sie, sondern auch das Gefühl, plötzlich jeden Halt und jede Richtung verloren zu haben. Zuvor hat es ein
Innerhalb
und ein
Außerhalb
und einen ebenso festen, unverrückbaren wie nicht fassbaren Willen gegeben, die Welt von dort draußen
hierher
, ins Getto, zu bringen und auf diese Weise (fast so, als kremple man ein Kleidungsstück von innen nach außen) gewissermaßen selbst
hinaus
zugelangen. Nun gibt es hier nichts mehr – kein Außerhalb, kein Innerhalb. Das Einzige, was es gibt, ist Sonne hinter hellen Wolkenschleiern, eine bleiche Sonne, die langsam mit dem Weißen verschmilzt, und um sie herum löst sich alles auf, wird formlose weiße Hitze.
    Als sie das Kollektiv in der Próżna erreicht, herrscht bereits milchige Dämmerung, und erschöpfte Arbeiter haben sich auf ihren Schlafplätzen unter dem halb eingestürzten Dach zusammengerollt. Als es ihr schließlich gelingt, bis zu dem Platz zu kriechen, den sie mit Aleks geteilt |538| hat, sind Decken und Matratze kalt und unberührt. Die ganze Nacht liegt sie wach und lauscht den Fledermäusen, die in der gewaltigen Finsternis unterm Dach auf raschen Flügeln unsichtbar umherfliegen; doch Aleks kommt nicht.

 
    |539|
Aus der Gettochronik
Litzmannstadt Getto, Donnerstag/Freitag, 15.–16. Juni 1944:
     
    Kommission im Getto : Das Getto ist wieder einmal in höchster Erregung. In den späten Vormittagsstunden traf eine Kommission im Getto ein, bestehend aus Oberbürgermeister Dr. Bradfisch, dem ehemaligen Bürgermeister Ventzki, dem Regierungspräsidenten Dr. Albers und einem höheren Offizier/Ritterkreuzträger, vermutlich vom Luftschutz.
    Die Kommission begab sich ins Büro des Ältesten, wo Dr. Bradfisch mit Präses Rumkowski eine Unterredung von wenigen Minuten hatte. Unmittelbar darauf erschienen die Gestapo-Kommissare Fuchs und Stromberg bei Frl. Fuchs. Gleich nach diesen Besuchen war das Getto voll der wildesten Gerüchte. Alle liefen in eine Richtung: Aussiedlung! Noch wusste das Getto nicht, was sich tatsächlich im Büro des Ältesten ereignet hatte, aber man meint nun zu wissen, dass eine größere Aussiedlung bevorstehe. Während man noch am Vormittag davon sprach, dass 5–600 Menschen gebraucht würden, hieß es am Nachmittag bereits, dass die Aussiedlung sich auf mehrere tausend Menschen erstrecke, vielleicht sogar auf den größten Teil der Gettobevölkerung. Ja, man wollte bereits wissen, dass es auf eine Liquidierung des Gettos hinausläuft.
    […] Das Ziel ist eine umfangreiche Entsendung von Arbeitern aus dem Getto. Es heißt, dass die 1. Gruppe von ca. 500 Menschen für München bestimmt ist, wo Aufräumarbeiten in den bombengeschädigten Gebieten vorzunehmen sind. Eine weitere Gruppe von ca. 900 Menschen soll noch in der gleichen Woche, vermutlich bereits am Freitag, den 23. ds. Mts., abgehen. Dann sollen 3 Wochen hintereinander je 3000 Mann abgehen. Für jeden Transport sind ein Transportleiter, 2 Ärzte, Sanitätspersonal und Ordnungsdienst zu bestimmen. Letzterer soll nicht aus dem regulären O.D. des Gettos, sondern aus den Transporten selbst |540| zusammengestellt werden. […] Wohin diese großen Gruppen bestimmt sind, ist noch unbekannt.
    *
    Bekanntmachung Nr. 416
Betr: Freiwillige Registrierung zur Arbeit nach außerhalb des Gettos
ACHTUNG !
     
    Hierdurch gebe ich bekannt, dass sich Männer und Frauen /auch Eheleute/ zur Arbeit nach außerhalb des Gettos registrieren lassen können.
    Soweit es sich um Familien mit Kindern im arbeitsfähigen Alter handelt, können auch diese Kinder zusammen mit den Eltern zur Arbeit nach außerhalb des Gettos

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