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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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zufrieden zu essen, bevor der letzte Transport abging. Rosa hatte die seidenweichen Stimmen selbst hinter dem roten Stoffstück flüstern hören, das vor ihrem Fenster hing –
    Draj …!
, ließen sie sich vernehmen.
    Oder:
    Draj en a halb …!
    Je länger es dauerte, bis Deborah zurückkehrte, desto überzeugter war Rosa, dass es einer dieser flüsternden Seelenkäufer gewesen sein musste, dem das Mädchen zum Opfer gefallen war.
    Die Sache verhielt sich nämlich so:
    Da Biebow darauf gedrungen hatte, dass möglichst viele Fabriken in Betrieb bleiben sollten, waren alle Ressortleiter verpflichtet, Listen mit Arbeitern, die sie für unentbehrlich hielten, zu erstellen und solche mit anderen, auf die sie zur Not verzichten konnten. Auf Grundlage dieser Listen wählte daraufhin ein spezielles
Inter-Ressort-Komitee
die Namen derjenigen Arbeiter aus, die mit dem nächsten Transport abgehen sollten, und die jener, die ihre Arbeit weiter verrichten durften. Ein Ressort konnte auch Arbeiter vom Komitee »kaufen«, wenn besonderer Bedarf bestand oder Biebow festgelegt hatte, dass die Produktion ebendieses Ressorts von besonderer Wichtigkeit war.
    Auf diese Weise fand ein ständiger Handel mit Menschen statt.
    Manche Fabrikleiter konnten bis zu zehn »Entbehrliche« im Austausch für einen fähigen Mechaniker bieten.
    Daher der Bedarf an allen diesen »Seelen«. Meist handelte es sich um sehr junge Männer oder Frauen, die sich gegen Bezahlung in Form von Brot oder Lebensmitteltalons überreden ließen, sich anstelle der Angeforderten deportieren zu lassen, damit die Quote der Deportierten stetig und ausgeglichen blieb.
    Das Ganze glich einer Maschine, einem gigantischen in Betrieb befindlichen Sortiermechanismus:
    |552| Wer genug Geld hatte, um zu bezahlen, kaufte sich einen zusätzlichen kleinen Zeitraum im Getto. Wer kein Geld hatte, verfügte zumindest noch über seine »Seele«, die er verkaufen konnte.
     
    Bereits im Morgengrauen ist die Brzezińska erfüllt von einem Lärm, so intensiv, dass er einen eigenen Körper zu bilden scheint, einen Geräuschkörper, hoch über der Menschenmasse schwebend, die sich schwerfällig die Straße in ihrer ganzen Länge hoch- und hinunterbewegt.
    In der Menge verlaufen zwei Ströme. Einer vom Plac Kościelny die Straße
herauf
. Hier gehen die Freigekauften, die Verschonten, die noch immer eine Arbeit haben, zu der sie eilen können, Rucksäcke auf dem Rücken und
menażki
munter um die Taille scheppernd. Ein anderer Strom ist auf dem Weg zum Plac Kościelny
hinunter
. Hier gehen all die anderen: die den Ausreisebescheid erhielten oder sich als Seelen verkaufen mussten.
    Um die Mittagszeit hat das Chaos beinahe unwirkliche Züge angenommen:
    Mitten auf der Straße stehen Menschen mit ihrer Ladung Möbel und Hausrat;
stehen
einfach nur da: obgleich in einer endlos wirkenden Karawane aus Wagen und Karren, die umgekippt oder nur festgefahren sind, und nun versuchen die Leute, sie wiederaufzurichten und in die richtige Spur zu bringen, indem sie von hinten schieben oder sich in die Sielen legen und ziehen.
    Auf dem Weg zum Bałucki Rynek kommt Věra an dem sogenannten
Aufkauf
vorbei: ein großes eingezäuntes Gelände, das seinen Anfang bereits bei Krons Apotheke am Fuß der Holzbrücke nimmt und bis zum Jojne-Pilcer-Platz hinaufreicht. Alles, was sich eventuell verkaufen lässt, wurde hergebracht: Tische, Esszimmermöbel, Schränke, Türen; abgenutzte, womöglich kaputte, für irgendwelche Zwecke aber vielleicht dennoch brauchbare Taschen und Koffer; auch Kleidung, vornehmlich warme Mäntel und Jacken, Winterschuhe und Stiefel. Bestimmte bewegliche Güter kauft das Getto auf: doch nur wenige von denen, die hergekommen sind, um ihre letzten Habseligkeiten zu veräußern, wollen dafür
bezahlt
werden. Nicht mit Geld. Die Rumkies des |553| Gettos sind nun wertlos. Wer seine Ausreise vorbereitet, will Lebensmittel dafür – Brot, Mehl, Zucker oder Konserven, alles, was sich mitnehmen und verspeisen lässt.
    Und überall geraten die Leute einander in die Haare, weil sie meinen, nicht erhalten zu haben, was ihnen versprochen wurde, oder nicht zum richtigen Preis. Diese Schlägereien sehen etwa vierzig Polizisten mit an, die von der Holzbrücke bis ans Ende der Straße eine lose Kette bilden. Keiner der Polizisten aber greift ein oder wenn, nur symbolisch, um zwei oder ein paar besonders heftig Streitende zu trennen. Vielleicht haben sie Anweisung, sich zurückzuhalten, oder sie wagen es

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