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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Getto, sie versuchte auch im Wohlwollen anderer oder in ihren eigenen oder den Worten anderer Menschen zu verschwinden.
    »Ich kann dir helfen«, sagte sie mit überschwenglicher Freundlichkeit zu Frau Grabowska, wenn diese mit dem Kohleneimer kam, und kniete sich vor den Ofen, um Feuer zu machen. Die
jetzige
Deborah war ebenso bereit, anderen zu Hilfe zu eilen, wie das Mädchen, das Rosa im Grünen Haus kennengelernt hatte; aber die
jetzige
Deborah vergaß den Kohleneimer oder den Wasserbottich schon in der Sekunde, in welcher sie losgegangen war, um sie zu holen, oder starrte Rosa nur ungläubig an, wenn diese versuchte, ihr zu beschreiben, wie sie von der Fabrik auf schnellstem Wege nach Hause kam. Die Worte fielen von ihr ab wie die Fliegen oder anderen Insekten von der Außenseite des Stoffstücks vor dem Fenster. Sie waren nur Schatten, und ebenso unmaßgeblich.
    In der Tat schöpfte Rosa erst am übernächsten Morgen Verdacht, als Frau Grabowska mit dem Eimer kam, um Feuer zu machen, mit Schaufel und Aschekratzer vor dem Ofen stand und ihr plötzlich einfiel –
da ist doch dieser Tage jemand hier gewesen und hat nach Fräulein Deborah gefragt.
Rosa wollte wissen, wer, aber Frau Grabowska hatte natürlich nicht die geringste Ahnung. Wie sollte sie das auch wissen? Heutzutage kamen und gingen ja derart viele herum. Eine jüngere Person – Sonder oder dergleichen – war alles, was ihr dazu einfiel.
    *
    Noch immer kursierte im Getto die Geschichte von der stummen, gelähmten Frau namens Mara, die man eines Tages auf der Zgierska außerhalb des Getto-Stacheldrahts gefunden hatte und von der die orthodoxen Rabbiner im Getto nichts wissen wollten, weshalb der Rebbe der Chassiden sich ihrer angenommen hatte. Tag für Tag hatte man Reb Gutesfeld und seinen
hilfer
mit einer einfachen Trage, auf der die gelähmte Frau lag, umherziehen sehen, und die Leute hatten sie heimlich im Gebetshaus an der Lutomierska oder im alten Filmtheater |550| Bajka, nunmehr Synagoge, aufgesucht, weil das Gerücht kursierte, dass sie die Tochter eines
zaddik
war und deshalb über heilende Kräfte verfügte.
    Nie aber hatte sie auch nur ein Wort gesagt oder ein Glied gerührt.
    Dann verhängten die Nazis die
Gehsperre
, und die Leute saßen voller Furcht daheim und warteten darauf, dass Sonder und SS bei ihnen auftauchten und ihnen ihre Alten und Kinder nahmen. Die letzten der alternden Rabbiner waren des Gettos verwiesen worden, und die Menschen waren überzeugt, dass auch die Gerechte verwiesen worden war, falls man sie nicht gleich an Ort und Stelle erschossen hatte.
    Dann aber ging das Gerücht, jemand habe sie im Getto gesehen. Es war am dritten, möglicherweise am vierten Tag nach Verhängung des Ausgangsverbots, und die Polizisten von Gertlers Sonderabteilung, die von der Beobachtung berichteten, waren vor Schreck wie gelähmt. Denn die gelähmte Frau schien nun aufrecht auf ihren zwei Beinen zu gehen, nicht eben mit festem Schritt, eher wankend von Hauswand zu Hauswand; ab und an war sie zu Boden gefallen, doch rasch wieder auf die Füße gekommen. Und als dieses Gerücht nun die Runde machte, zeigte sich, dass auch andere die Frau aus ihren Wohnungen heraus erblickt hatten. Nunmehr wollte man auch gesehen haben, wie sie durch geschlossene Haustüren ins Innere der Häuser ging, und auf jedem Geschoss, wohin sie kam, soll sie die Mesusa am Türpfosten berührt haben, und etliche, so hieß es, hätten sie sogar eingelassen, und da soll sie zu ihnen gesagt haben, der Gott Israels sei in der Stunde des Aufbruchs mit seinem Volke, ob dieser nun nach Babylon oder Mizrajim führte. Und würde auch nur einer von Israels Stämmen auf dem Weg untergehen, dann gingen, wie der Prophet sagt, alle unter. Doch ein Einziger, der untergeht, kann dennoch nicht alle vernichten. Denn wenn dem so ist, dass kein einziger Stein aus dem Fels geschlagen werden kann, ohne dass der gesamte Fels Schaden nimmt, ist es auch so, dass selbst dann, wenn aller Stein herausgeschlagen wird, der Fels dennoch besteht. Israels Stamm ist unvergänglich. Das soll sie gesagt haben.
     
    |551| Auch angesichts des Aufbruchs, der diesmal bevorstand, gab es Menschen, die zur Nachtzeit von Haus zu Haus zogen. Doch waren es kaum heiligen Männer, und sie sprachen auch nicht verheißungsvoll vom unzerstörbaren Fels Zions und von Erez Israel, wie es diese Mara getan haben soll, sondern von der Möglichkeit eines jeden, der es wollte, sich zumindest für einen Tag satt und

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