Die Elenden von Lódz
als Seelen verkauft; vielleicht wurden sie auch verkauft und sind unter anderem Namen oder in anderer Gestalt zurückgekehrt, weil einer mit mehr Macht und Einfluss sie freigekauft hat; oder sie sind einfach weggeblieben. Tagtäglich geht nun ein Transport aus dem Getto ab. Die Menschen denken, wenn ich mich nur noch ein Weilchen versteckt halten kann, ist die Befreiung vielleicht rechtzeitig hier. Aber auch der Unterschied zwischen tot und lebendig ist in diesen äußersten Zeiten dabei, sich aufzulösen. Leute behaupten, sie hätten
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quicklebendig auf den Gettostraßen gesehen; Nachbarn oder Arbeitskollegen, die sich verkauft hatten und deportiert worden waren und von denen alle glaubten, sie seien tot und für ewig verschwunden, waren nun auf einmal wieder zur Stelle, um das zurückzufordern, was ihnen von Rechts wegen gehörte.
Es ist der 8. August. Rosa Smoleńska ist auf dem Heimweg von der Handschuh- und Strumpffabrik in der Młynarska, als in ihrer unmittelbaren Nähe Schüsse erklingen. Es ist nicht das erste Mal, indes das erste Mal, dass das Geräusch so nahe ist.
Zunächst klingt es nicht sonderlich gefährlich. Ein paar kurze, verstreute Knalle.
Dann sieht sie, dass die Straße weiter unten voller Leute ist. Sie kommen |556| offenbar von überallher: eine träge fließende Menschenmasse. Eine Zeitlang wirkt es, als stehe diese Menge vor ihr vollkommen still. Doch nicht, weil die Leute sich nicht schnell genug bewegten, sondern weil sich alle gleichzeitig bewegen wollen und es daher keinem von ihnen gelingt. Die Leute rempeln, stoßen, versuchen, sich vorwärtszuschlagen. Einige haben ihre Habe dabei. Einen Korb mit Kleidung und Schuhen; eine Emaillewanne voller Hausrat; eine Milchkanne, die wie eine Kuhglocke hin- und herpendelt. Irgendwo zwischen all diesen schweigenden oder schreienden, offenen oder verbissenen Gesichtern entdeckt sie Frau Grabowska, die, einen gewaltigen Koffer schleppend, mal einen, mal ein paar Meter vorankommt.
Von Frau Grabowska erfährt sie, dass die Deutschen endgültig ins Getto einmarschiert sind.
Doch nicht von den Randgebieten des Gettos her, wie alle befürchtet und seit Wochen gemunkelt hatten, sondern direkt in sein Herz hinein; in die Łagiewnicka, Zawiszy, Brzezińska und Młynarska: alle vier Straßen in der Gettomitte sind durch deutsche Kampffahrzeuge abgesperrt. Die Polizei hat provisorische
Schutzpunkte
errichtet und vom Bałucki Rynek aus Stacheldraht in östlicher Richtung gezogen; spezielle Einheiten sind bereits in die Wohnhäuser an der Zawiszy und Berka Joselewicza vorgedrungen.
»Es ist nicht mehr möglich zurückkehren«, sagt Frau Grabowska.
Und wer habe da wohl als Erster die abgesperrten Gebiete betreten, wenn nicht Biebows treuergebener Diener, der Herr Präses? Die Posten ließen ihn vorbei, wie eine Kompanie Minenräumer einen Spürhund vorbeigelassen hätte. Ganz allein lief er dort, gänzlich ohne Leibwächtereskorte, als wollte er den Ernst seines Vorhabens unterstreichen. Frau Grabowska habe ihn selbst gesehen, wie er appellierend auf der Schwelle eines der Häuser stand. Wie in der Spottversion der Geschichte von der gelähmten Mara – hochaufgerichtet, pervertiert und stolz – erklärte er den dort drinnen wartenden Familien, es sei ihre letzte Chance, sich auf den Weg zu machen. Er sagte, er könne
persönlich
dafür bürgen, dass man ihnen kein Haar krümmen werde.
*
|557| In dieser Nacht schläft sie bei einer Bekannten von Frau Grabowska, die im obersten Stockwerk einer der alten Mietskasernen an der Młynarska wohnt. Vom Fenster der Wohnung sieht Rosa deutsche Armeefahrzeuge aus Litzmannstadt angefahren kommen, um die Absperrungen im Getto zu verstärken. Reihenweise schwere Lastwagen, beladen mit Eisenketten und Stacheldraht, rollen ins Getto.
Zwanzig Personen, die sich noch nicht zur Ausreise gemeldet haben, sitzen in einem einzigen Zimmer, die Gesichter hinter hochgezogenen Schultern und Knien verborgen. Keine von ihnen hat zu essen oder zu trinken. Mehrere konnten noch nicht einmal ihre Kochgefäße mitnehmen.
Das Einzige, was Rosa bei sich hat, ist die Liste mit den Präseskindern. Der hat sie ein paar aufbewahrte Fotografien hinzugefügt. Eins der Fotos ist in der Küche des Grünen Hauses aufgenommen. Im Vordergrund bei den blitzenden Töpfen und Suppenkesseln steht die Köchin Chaja Meyer mit Kochmütze und weißer Schürze, und hinter ihr sitzen die Kinder aufgereiht, auch sie weißgekleidet, die Jüngsten mit
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