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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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bandagierten Teigklumpenfinger unbeholfen über ihre Schenkel und ihren Schoß. Und was konnte sie tun? Natürlich lächelte sie und weinte aus Dankbarkeit. Wie sie es immer getan hatte.

 
    |547| Die letzten Aussiedlungen aus dem Getto erfolgten in zwei Etappen. Eine erste, geordnetere Aussiedlung währte vom 16. Juni bis zur Mitte des folgenden Monats. Im Anschluss gab es eine Unterbrechung von zwei Wochen, in denen das Leben im Großen und Ganzen zum gewohnten Ablauf zurückzukehren schien. Dann wurden die Deportationen erneut aufgenommen, und nun war keine Rede mehr von einigen Transporten an Orte außerhalb des Gettos, sondern es ging um dessen totale
Verlagerung
.
    Das gesamte Getto, mit Menschen, Maschinen und allem Drum und Dran, sollte an einen anderen Ort verbracht werden.
    Die Front war nun sehr nahe. Die Flakabwehr heulte jede Nacht regelmäßig mehrere Stunden, und Rosa Smoleńska, die hinter dem Vorhang in Frau Grabowskas Wohnung wachlag, konnte spüren, wie die Detonationen entfernter Bombeneinschläge, gleich einem dumpfen Beben, durch die Wände des Hauses bis in ihren eigenen Körper liefen.
    In dieser letzten Zeit arbeitete Deborah Żurawska in Tusks Porzellanressort an der Ecke Lwowska, Zielna. Die Fabrik produzierte Porzellanummantelungen für Sicherungen und Isolatoren und war eine der wenigen Firmen, die Biebow als
kriegswichtig
eingestuft hatte und die daher auch nach Beginn der Evakuierungen im Getto verbleiben durfte. Deborah hatte ihren Arbeitsplatz weit hinten in der engen, ausgekühlten Baracke, wo sie mit einigen anderen Mädchen die fertigen Sicherungen in kleine, viereckige Pappschachteln packte. Zwölf Sicherungen in jede Schachtel, die dann durch Laschen an der Ober- und Unterseite verschlossen wurde, die man in diagonale Schlitze an den Schachtelseiten steckte. Anschließend wurden die Schachteln zu je zwanzig Stück in Kartons verpackt.
    Tagtäglich führte Deborah diese einfachen Handgriffe aus.
    |548| Eines Tages kam sie nicht mehr nach Hause. Im Nachhinein sollte sich Rosa eingestehen, dass sie nicht genau sagen konnte,
wann
Deborah entwichen war: ob bereits am Morgen, als sie sich auf dem Weg zu Tusk befunden hatte, oder in der Nacht oder womöglich schon am Abend zuvor. In letzter Zeit war es recht oft vorgekommen, dass Deborah entwich oder »sich vergaß«, wie man in der Fabrik sagte. Sie verließ den Packraum im Ressort und verirrte sich in eine der bekannten und zugleich vollkommen fremden Gassen, die sich hinter dem Gebäude auftaten. Das konnte mitten am Tag geschehen oder abends nach Ertönen der Fabriksirene. Geschah es mitten am Tag, kam sie in der Regel nur ein paar Häuserblöcke weit, bevor die Sonder sie stoppte und ihre Arbeitskarte zu sehen verlangte. Geschah es jedoch nach Schichtwechsel, konnte sie zuweilen eine ziemliche Strecke bewältigen, bevor ein Nachbar oder Bekannter Rosa darauf aufmerksam machte, dass »ihr Mädchen« sich in der entsprechenden Gegend aufhielt. Einmal hatte sie sogar die Holzbrücke am Bałucki Rynek überquert und war unter den Arbeitern der in der Drukarska gelegenen Kunsttischlerei umhergeirrt, und es war nur Zufall, dass Rosa ihrer habhaft geworden war, bevor die Sonder sie erwischte.
    Manchmal aber war Rosa einfach zu müde. Zehn Stunden am Tag in der Uniformschneiderei, in der sie Arbeit beim Einnähen von Futter in Handschuhe und Wintermützen bekommen hatte; daraufhin allabendlich drei Stunden Schlangestehen, um irgendeine klägliche Ration zu ergattern, dann Wasser aus den Gasküchen in die Wohnung schleppen und Treppenhäuser oder Fußböden wischen und schrubben. Zuweilen war sie derart erschöpft, dass sie nur noch ins Bett sinken konnte. Wenn sie am nächsten Morgen aufwachte, fand sie Deborah mitunter vollkommen bekleidet auf dem Fußboden vor dem Schlafalkoven sitzen, wo sie wie verhext die Fliegen anstarrte, die auf der Außenseite des von der Sonne beschienenen Stoffstücks umhersurrten, das Rosa vor das Fenster gespannt hatte: verfolgte, wie der Schatten der Fliegen anschwoll, kurz bevor sie auf dem Stoff haften blieben, und dann wieder schrumpfte, wenn sie sich lösten und davonflogen. Dann war Deborah in der Regel die ganze Nacht draußen gewesen, und Rosa entsetzte sich bei dem Gedanken, was hätte geschehen können, wenn sie in ihrer |549| Verwirrung den Drähten zu nahe gekommen und es einem der gelangweilten deutschen Posten eingefallen wäre zu schießen.
    Deborah aber »vergaß sich« nicht nur draußen im

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