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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Lätzchen; alle über ihre Suppenschüsseln gebeugt, als hätte der Fototermin nur den Zweck, ihre entlausten Köpfe zu zeigen. Auf einem anderen Bild stehen dieselben Kinder vor der Einfriedung des Großen Feldes. Allesamt sind im Profil aufgenommen, stehen in einer Reihe, die Hände auf den Schultern des Vordermanns, wie eine Baletttruppe oder wie vor dem Abmarsch.
    Doch das sind nur Bilder. Jungen mit rasierten Köpfen; Mädchen mit Zöpfen.
    Es könnten beliebige Kinder sein.

 
    |558| Am Morgen hat Rumkowski eine neue Bekanntmachung drucken lassen. Sie klebt an jeder Hauswand, von der Młynarska bis zum Abfalltümpel an der Dworska.
     
    Bekanntmachung betreffs der Umsiedlung des Gettos
     
    Alle Fabriken sind geschlossen zu halten:
    Von Donnerstag, dem 10. August 1944, an sind alle Fabriken des Gettos geschlossen zu halten. In jeder Fabrik dürfen sich maximal zehn Personen aufhalten, um Material und Güter zu packen und abzutransportieren.
    Räumung der westlichen Gettoteile:
    Von Donnerstag, dem 10. August 1944, an sollen die westlichen Teile des Gettos (jenseits der Brücke) von allen Einwohnern und Arbeitern gesäubert werden. Alle dortigen Einwohner und Arbeiter müssen in den östlichen Teil des Gettos umziehen.
    Von Donnerstag, dem 10. August 1944, an werden in den westlichen Gettoteilen keinerlei Lebensmittel mehr ausgegeben.
     
    Litzmannstadt Getto, den 9. August 1944
Mordechai Ch. Rumkowski
    Ältester der Juden

 
    |559| Am nächsten Tag sieht sie vom Fenster aus lange Menschenkolonnen auf dem Weg nach Radogoszcz. Sie wirken friedlich, trotz der enormen Lasten, die sie schleppen. Irgendwo aus dem Rucksackdickicht mit festgezurrten Decken, Matratzen und zusammengebundenen Kochgefäßen tritt eine Frau heraus und reißt ein Bündel Petersilie aus einem Gärtchen, das sie soeben passieren, und reicht es einer Freundin hinten im Zug weiter. Rosa fragt sich, woher all diese Leute kommen; ob die Behörden nun begonnen haben, ganze Fabriken zu leeren. Sie fragt sich auch, ob sie es wagen soll, hinunterzulaufen und den Vorbeimarschierenden die Namen und Bilder der Präseskinder zu zeigen, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der wenigstens einen Namen oder ein Gesicht auf der Liste wiedererkennt.
    Aber sie wagt es nicht. An den Seiten der Marschkolonnen gehen Ordnungskräfte und halten die Leute strikt unter Aufsicht. Die Polizisten haben die Frau nicht beim Petersiliepflücken gehindert, doch würden sie definitiv reagieren, wenn jemand von außen die Marschordnung stört.
    Einen ganzen Tag muss sie warten, bevor sie sich nach draußen wagt. Um diese Zeit des Sommers bricht die Dämmerung erst spät an. Und wenn das Tageslicht so weit verblasst ist, dass die Straße unten nur noch als dünnes Band in der bläulichen Dunkelheit zu erkennen ist, steigt eine Mondscheibe am Himmel auf, und es wird wieder hell, beinahe, als wäre es mitten am Tag. Sie versucht sich möglichst dicht an den Häuserwänden und im Schatten zu halten, um nicht vom Licht getroffen zu werden; doch weiter unten auf der Zgierska gibt es keine Dunkelheit mehr, in der man sich verstecken könnte. Der Vollmond hängt breit im Gatt zwischen den beiden Gettohälften, und unter der gewaltigen Mondscheibe ist die Holzbrücke schwarz vor Menschen, die sich hinüberzudrängen suchen. Als sie näher kommt, hört sie das |560| Geräusch – das Trommeln Tausender
trepki
auf dem nackten Holzbelag der Brücke.
    In diesem Augenblick weiß sie, dass es nichts mehr nützt, überhaupt noch nach den Kindern zu suchen. Am westlichen Fuß der Holzbrücke an der Lutomierska stehen Ordnungskräfte, die jeden packen und zur Seite treiben, der sich vor einem anderen die Brücke hinaufzudrängen sucht. Die werden sie kaum durchlassen. Und sich an diejenigen zu wenden, die mit ihren Koffern und Gepäckbündeln auf der östlichen Seite herauskommen, hat so gut wie keinen Sinn.
    Sie setzt sich auf die ausgetretene Steintreppe eines Hauseingangs in der Zgierska und versucht nachzudenken. Was kann sie tun, wenn sie sich im Getto nicht mehr frei bewegen kann?
    Und was soll sie dem Alten sagen, wenn sie nicht mit den Kindern bei ihm erscheinen kann?
    Sie waren da, alle waren da, aber sie sind verschwunden.
    Oder:
Sie waren alle da, aber ich habe es nicht geschafft, zu ihnen vorzudringen.
    Das kann sie einfach nicht sagen.
    *
    Ein neuer Tag, eine neue Morgendämmerung. Erneut begibt sich Rosa nach Marysin. Sie geht die Marysińska hinunter, vorbei an langen

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