Die Elenden von Lódz
nicht. Oder sie stehen einfach nur da, um ihre eigene Habe zu bewachen, womöglich wohnen ja ihre eigenen Angehörigen in einem naheliegenden Gebäude oder Viertel.
Hier und da glaubt sie in dem Chaos den Wagen des Ältesten zu erblicken und sein ramponiertes Gesicht unter einer Hutkrempe oder dem rasch vorübergleitenden Verdeck des Wagens zu sehen. Der Präses des Gettos ist in diesen letzten Tagen unermüdlich tätig. Er gibt Bekanntmachungen heraus. Er hält Reden. Er appelliert an die Bewohner, die sich noch immer versteckt halten, sie mögen aufgeben und hervorkommen.
Jidn fun geto basint sich!
Zuweilen treten Biebow und er zusammen vor die Öffentlichkeit. Ein seltsamer Anblick – der Mann, der die Schläge ausgeteilt, und der Mann, der die Schläge empfangen hat, Seite an Seite. Biebow trägt obendrein die Hand, die den Präses geschlagen hat, noch immer verbunden in der Schlinge, und der Präses trägt seine blutigen Schnittwunden und sein zugeschwollenes Auge wie eine Maske vor dem, was sein richtiges Gesicht sein musste. Obendrein soufflieren sie einander brüderlich, wie das Komikerpaar in Mojsze Pulavers Gettorevue. Zunächst spricht der Älteste ein paar einleitende Worte. Dann übernimmt Biebow.
Meine Juden
, sagt Biebow.
Das hat er nie zuvor gesagt.
Eines Tages kursiert das Gerücht, dass unten auf dem alten Gemüsemarkt Waren zur Verteilung eingetroffen sind. Weißkohl. Drei Kilo pro |554| Ration. Eine nahezu unfassbare Menge für ein Getto, das jahrelang von fauligen Steckrüben und vergorenem Sauerkraut lebte.
Gemüsewaage und Messgewichte sind bereits mitten auf dem Platz aufgestellt, und die Leute beugen sich vor, bereit, ihre geöffneten Säcke zu füllen. Da ertönt plötzlich das Geräusch aufheulender Traktormotoren; dann das scharfe Klingen angekoppelter Hänger, Metall auf Metall. Ein Laut des Schreckens für alle, die sich an die
szpera- Tage
vor anderthalb Jahren erinnern. Umgehend lassen die Leute alles, was sie in Händen halten, fallen und versuchen sich hastig in Sicherheit zu bringen, doch kommen sie nur wenige Häuserblöcke weit, bevor von allen Seiten stahlhelmbewehrte Einsatzkräfte auf den Platz stürmen. Von der Łagiewnicka kommt Verstärkung in Form von Lastwagen, vollbeladen mit deutschen Polizisten; die bewegen sich derart schnell, dass sie geradezu von den Ladeflächen
zu fluten
scheinen, ergreifen die Fliehenden und werfen sie ohne Umschweife auf die Anhänger.
Da stehen der Älteste und Biebow plötzlich erneut vor ihnen – der Schlagende und der Geschlagene; der Deutsche und der Jude – oben auf einer der Ladeflächen. Biebow hebt obendrein die bandagierte Hand und ruft mit einer an das Publikum appellierenden Geste:
Nein, nein, nein …!
Und neben ihm steht der Herr Präses mit seinem ramponierten Gesicht, und auch er hebt den Arm und ruft:
Nein, nein, nein
, nahezu wie ein Echo; und Biebow sagt:
Meine Juden
, sagt er.
So h ä t t e n wir es machen können.
Wir hätten euch auf die Wagen laden und euch allesamt deportieren lassen können.
Aber so machen wir es nicht! Nein, nein, nein …!
Wir wollen keine Gewalt anwenden. Dazu gibt es keinen Grund.
Alle Juden des Gettos sind in unseren Händen sicher und geborgen.
In Deutschland gibt es genügend Arbeit, und noch immer gibt es genügend freie Plätze in den Zügen …
Geht jetzt heim und denkt in aller Ruhe über die Sache nach und meldet euch dann zusammen mit euren Kindern und euren Ehegatten morgen früh auf dem Bahnhof Radegast.
|555|
Wir versprechen, unser Bestes zu tun, um euer Dasein so erträglich wie möglich zu gestalten.
Rosa Smoleńska steht unter den Leuten, die sich um den Lastwagen versammelt haben, um den beiden zuzuhören. In der Hand hält sie die Liste aller Präseskinder, die sie hatte zusammenstellen können, indem sie in Frau Wołks Büro einen Blick in die verbotenen Adoptionsakten wagte. Auf der Liste stehen nicht nur die Namen der Kinder selbst, sondern auch die ihrer »neuen« Eltern oder von deren Angehörigen; sowie die Namen der Fabriken, in denen Wołk oder Rumkowski den Kindern Arbeit beschafft haben, und die Namen der
kierownicy
, die wie Herr Tusk die Aufgabe hatten, als ihre Beschützer zu fungieren.
Sie geht mit der Liste von Ressort zu Ressort. Doch die Fabrikleiter haben seit langem die Kontrolle darüber verloren, wer bei ihnen beschäftigt ist und wer nicht. Die vormals hier angestellten Arbeiter sind seit geraumer Zeit ausgetauscht; oder sie sind
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