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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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wegstiehlt!
    Sag mir: Wie soll ich mit all meinen Lieferungen zurechtkommen, wenn ich keine Arbeiter mehr habe, auf die ich mich verlassen kann? Wie soll ich hier im Getto überleben, wenn es keine Juden mehr gibt?
     
    Nachdem man ihm die Glasscherben herausgezogen und die Wunden im Gesicht notdürftig genäht und verbunden hatte, war der Präses des Gettos auf eigenen Wunsch »heim«, in die alte Kammer im Obergeschoss der Sommerresidenz in der Karola Miarki, gebracht worden. Zu diesem Zeitpunkt glaubten alle, das letzte Stündlein des Ältesten wäre gekommen. Herr Abramowicz beugte sich am Krankenbett zu dem Alten hinab und fragte, ob er einen letzten Wunsch habe, und der Alte flüsterte, man möge nach seiner alten treuen Mitarbeiterin, der ehemaligen Kinderschwester Rosa Smoleńska, schicken.
    Im Nachhinein gesehen hat man um die Sache zu viel Aufheben gemacht. Trotz aller Opfer, die seine vielen langjährigen Angestellten und engen Mitarbeiter in all den Jahren gebracht hatten, wollte der Älteste, als er am Rand des Grabes stand, als einzige Person eine simple Kinderpflegerin sehen. Doch Herr Abramowicz fuhr mit Kuper in der Kalesche zur Erkerwohnung in der Brzezińska, in der Fräulein Smoleńska zusammen mit einem der zur Adoption gegebenen Präseskinder wohnte; und Fräulein Smoleńska legte ihre alte Kinderschwesterntracht an, und sie fuhren gemeinsam nach Marysin. Dort ließ sie Herr Abramowicz in das Krankenzimmer ein, in dem der sterbende Präses lag, und zog diskret die Tür hinter sich zu; und der Herr Präses musterte sie von Kopf bis Fuß, bedeutete ihr dann mit einer vagen Handbewegung, sie möge an seiner Seite Platz nehmen, und sagte:
Worum es jetzt in erster Linie geht, sind die Kinder;
und von dem Moment an war alles genau wie zuvor und wie es immer gewesen ist.
     
    |545|
Ältester:
Worum es jetzt in erster Linie geht, sind die Kinder! Fräulein Smoleńska hat sie allesamt zu einem speziellen Sammelplatz zu bringen, den ich erst bei späterer Gelegenheit benennen werde. NICHT EIN KIND DARF DAVON AUSGENOMMEN WERDEN. Hat Fräulein Smoleńska das verstanden? Für die Kinder ist ein Extratransport bestellt. Zwei Ärzte sollen diesen Transport begleiten, ebenso zwei Pflegerinnen, die ich selbst auswählen werde. Was sagt Fräulein Smoleńska dazu? Hat sie Lust, den Transport als Kinderschwester zu begleiten?
     
    Rosa Smoleńska hatte seit langem den Überblick verloren, wie oft sie im Laufe der Jahre schon in Büros oder Kammern gerufen worden war, in denen der Älteste »krank« oder nur »von Anfechtungen gequält« daniederlag. (Wenn es nicht das »Herz« war, das ihn zu jener Zeit ständig plagte, war es etwas anderes.)
    Nun sah er tatsächlich krank aus, das Gesicht rot geschwollen, voll schwarzer Blutknoten, dort, wo man die Wunden an Schläfe, Auge und beiden Wangen genäht hatte. Das Schreckliche aber war, dass unter dem zerstörten Gesicht das alte Gesicht lag. Und nun lächelte dieses Gesicht und zwinkerte ihr ebenso schamlos schlau und verständnisheischend zu, wie es das stets getan hatte; und die Stimme, die aus den Verbänden sprach, war dieselbe, die ihr seit eh und je befohlen oder sich den Anschein gegeben hatte, ihrem Willen zu entsprechen, wenn sie (ihrerseits) nur den seinen akzeptierte:
     
    Ältester:
Denn Fräulein Smoleńska will mit den ihren doch wohl dazugehören? In diesem Fall möchte ich, dass sie ihre Verantwortung übernimmt und sämtliche Kinder zu der Sammelstelle bringt, die ihr angewiesen wird. Kann sie Rumkowski das versprechen?
     
    Er hatte ihre Hand mit seinen beiden Händen umfasst. Die Hände waren bis über die Handgelenke bandagiert, was seine kleinen, aus dem Gips ragenden Finger wie knubbelige weiße Teigklumpen aussehen ließ. –
Doch es war dieselbe Hand!
– Und ebenso wie die vielen Male zuvor, als er sie dazu gebracht hatte, ihn zu berühren, versuchte die Hand jetzt dort hineinzugelangen, wo sie nichts zu schaffen hatte.
    |546| Und wie sollte sie ihm da sagen können, dass die Kinder, deren Zusammenführung er von ihr begehrte, allesamt fort waren?
    Dass es keine Kinder mehr zu retten gab!
    Er hatte doch selbst dabei mitgewirkt, sie wegzuschicken!
    Aber das konnte sie nicht. Hinter dem zerstörten Gesicht appellierte der herzlose Blick erneut an sie, und sie konnte den Mann nicht im Stich lassen. Sie sagte,
ja, Herr Präses, ich werde tun, was ich kann, Herr Präses.
Und unter der frischgebügelten Kinderschwesterntracht bewegten sich die

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