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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Düsenjäger rasten von den Häuserdächern steil in den Himmel hinauf; diesmal gefolgt vom schweren, gleichsam säumigen Knattern der Flakbatterien irgendwo in der Ferne.
    Er lag noch immer mitten auf der Straße, dort wo ihn die Lärmwelle zu Boden geworfen hatte. Noch nie zuvor hatte er fremde Kampfflieger aus solcher Nähe gesehen. Eine Art Euphorie sandte Wärme von der |592| Magengrube bis ins kleinste Fingerglied. Also mussten ihre Befreier ganz nahe sein, vielleicht nur wenige Kilometer weg.
    Sobald die Sirenen verstummt waren, so als hätte das Geräusch sich in sich selbst zurückgespult, hörte man rundum erregte Stimmen Polnisch und Deutsch schreien. Er drehte den Kopf und sah in zweihundert Meter Entfernung zwei Wehrmachtssoldaten aus einem Haus an der Straßenecke rennen. Die Sekunde darauf gefolgt von einem großen Panzer, der vermutlich auf dem Hof des Zentralgefängnisses versteckt gestanden hatte. Eine Zeitlang hielt er das lange Geschützrohr direkt auf ihn gerichtet. Dann erfolgten weitere Bewegungen von Soldatenkörpern vor und hinter dem Panzer, und das Geschützrohr drehte sich langsam und würdig zur Seite.
    Ihm wurde klar, dass ihn die deutschen Soldaten entdeckt hätten, wären sie nicht in solcher Eile und selbst derart aufgescheucht gewesen. Und wenn er nicht am Boden gelegen hätte. Sobald sie außer Sicht waren, ergriff er die Chance: stand auf und rannte gebückt ins nächste Haus.
     
    Er hätte wissen müssen, welcher Gefahr er sich aussetzte.
    Die Stille im Getto – die verlassenen Straßen, die leeren Häuser –, alles war nur Schein.
    In jedem der anscheinend leeren Gebäude, an denen er vorüberging, konnte ein deutscher Soldat liegen und ihm mit dem Zielfernrohr oder dem Gewehrlauf folgen.
    Er durfte sich nie gestatten, diese Tatsache zu vergessen.

 
    |593| Das letzte Mal, als er in dem alten Kinderheim an der Okopowa gewesen war, hatte er Feldman geholfen, Kohle für den Ofen im Keller hineinzutragen. Zu diesem Zeitpunkt war das Grüne Haus schon kein Kinderheim mehr, sondern unterstand jener recht diffusen Verwaltung, die auch die »Erholungsheime« für die
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des Gettos administrierte. Wenn es in Marysin ein Gebäude gab, in dem sich versteckte Lebensmittel finden ließen, dachte Adam, dann hier.
    Dennoch schien es, als wäre das Grüne Haus von unsichtbaren Mauern oder Zäunen umgeben.
    Mehrere Male ging er daran vorbei, ohne sich entschließen zu können hineinzugehen.
    Lida war hier mit Sicherheit nie eingesperrt gewesen. Dennoch war da etwas an dem Bild in seiner Erinnerung, ihr nackter, blaugefrorener Körper auf der Schwelle eines fremden Hauses, das auch das Bild dieses Gebäudes veränderte. Oder war es der Gedanke an all die Kinder, die hier gewohnt hatten? Er erinnerte sich, wie sie reglos dagestanden hatten, die Finger im Maschendrahtzaun hängend, der das große Feld auf der Rückseite umgab. Blasse, schattenhafte Gesichter. Dennoch war es ein friedvolles Haus gewesen. Er erinnerte sich an die schrill lachenden und schreienden Kinderstimmen, die weit im Umkreis zu hören waren.
    Am Ende fasste er sich ein Herz und ging hinein.
    Der Leichengestank war nahezu betäubend.
     
    Irgendwie hatte er die ganze Zeit so etwas erwartet. In einem der Häuser musste es Tote geben.
    Menschen, die zu schwach gewesen waren, um mit eigener Kraft zu den Sammelplätzen zu gelangen. Menschen, die im letzten Augenblick versucht hatten, sich zu verstecken. Menschen, denen es wie ihm an Nahrungsmitteln und Wasser mangelte, so dass sie sich nicht am Leben |594| erhalten konnten. Falls die Deutschen die Häuser nicht bereits durchsucht und diejenigen, die sie an Ort und Stelle vorfanden, getötet hatten, ohne sich die Mühe zu machen, die Toten fortzuschaffen. Denn was gab es noch für einen Grund, sich um die Leichen zu kümmern, wo doch die letzten Transporte das Getto bereits verlassen hatten?
     
    Wiesen die anderen Häuser deutliche Spuren eines hastigen Aufbruchs auf, glich das, was im Grünen Haus herrschte, einer totalen Verwüstung. In der Küche lagen sämtliche Tische umgestoßen, der vorhandene Hausrat – Töpfe, Deckel und Teller – war aus den Schränken gerissen. Im engen Korridor zwischen der Diele und dem kleinen Zimmer, das Feldman das Rosa Zimmer nannte, waren die Dielen aufgebrochen, und mitten im Raum klaffte nun ein großer breiter Schacht. Vom Klavier, das hier drinnen gestanden hatte, war keine Spur zu entdecken. Vermutlich war es konfisziert worden,

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