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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Ausheben von Schützengräben ergangen war, dürfte es sehr unwahrscheinlich sein, dass man jemanden vom Aufräumkommando um diese Tageszeit bis nach Marysin hinaus beordert hatte.
    Wem konnten die Stimmen dann gehören?
    Deutschen?
    Feldman hatte vor dem Risiko gewarnt, dass die Deutschen die Gärtnerei womöglich als eine Art Quartier benutzen könnten, selbst wenn er das persönlich für ziemlich unwahrscheinlich hielt. Die Küche und das Büro waren unbrauchbar, und das Gewächshaus war zur Unterbringung von Polizisten nicht eben geeignet. Da war es sicherer, die Truppe im Getto zusammenzuhalten und sich ausschließlich bei Tageslicht und für konkrete Aufträge nach Marysin zu begeben.
    Oder kamen die Stimmen vom Bahnhof Radogoszcz? War man dort noch immer mit Entladearbeiten beschäftigt? Aber zu welchem Zweck?
     
    Adam umrundete das Gewächshaus mehre Male, ohne Klarheit darüber zu gewinnen, was er da vernahm. Überall war es dunkel. Dennoch sprachen die Stimmen zueinander. Ja, es war mehr als reines Sprechen. Es war, als befänden sie sich in einer Art erregtem Zustand, der sie zwang, einander ununterbrochen ins Wort zu fallen oder zu übertönen. Noch immer ließ sich nicht das Geringste unterscheiden.
     
    Er öffnete die Tür zum Hauptgebäude. Die Tür schwankte unter seinem Griff, als säße sie nur lose in den Angeln oder würde einfach langsam brüchig. Unter seinen Füßen der spröde, knirschende Laut zersplitterten Glases. Die Scherben lagen noch immer da seit dem Tag, als Samstag und seine Männer zwischen all den privaten Ausstellungsobjekten Feldmans gewütet hatten.
    Hier drinnen herrschte ein seltsames Licht, weich und grünlich, so |585| als würde es noch immer vom bröseligen Staub- und Schimmelbelag filtriert, der die Innenseiten der Glaskästen bedeckt hatte.
    Aus der Küche in Feldmans Büro holte er einen Teekessel, den er an der Pumpe bei den Schuppen randvoll mit Wasser füllte. Was übrigblieb, nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, benutzte er, um sich zu waschen. Zunächst im Schritt und entlang der Schenkel; dann auch am Oberkörper, unter den Armen, im Gesicht.
    Aber er verzichtete darauf, sich abzutrocknen. Wenn sie mit Hunden kamen – und das war wohl nur noch eine Frage der Zeit –, ergäben Handtücher oder Lumpen, die er zum Abtrocknen benutzt hatte, eine eindeutige Spur.
    Nackt und frierend kehrte er ins Büro zurück und ging die zerschlissenen Kleidungsstücke durch, die Feldman zurückgelassen hatte. Wenn es im Herbst kalt und feucht geworden war, hatte Feldman stets ein Paar weite sackartige Schaffellhosen getragen. Für Adam würden sie zu kurz sein, doch da sie im Schritt sehr weit waren, passte er gewiss hinein. Er fand auch einen Mantel und eine Decke, die als Stütze für Nacken und Rücken dienen konnte, wenn er sich gegen den nackten Stein lehnte.
    Seine eigenen Kleider rollte er zu einem dicken Bündel zusammen. Die musste er wieder mit ins Kellerloch nehmen. Alles, was er hier oben benutzt hatte, musste hinunter. Dennoch brachte er es nicht über sich, umgehend wieder in den engen, stinkenden Schacht zu steigen. Wenn er nun schon einmal hier oben war, musste er versuchen, etwas Essbares zu beschaffen. In Feldmans Decke gewickelt saß er da und versuchte, die ehemals sorgfältig bewachten Obstgärten vor sich zu sehen. Welcher Zaun zu welcher Einfriedung gehörte. Die Räumung des Gettos war schließlich so rasch erfolgt. Irgendwo mussten noch ungeerntete Früchte an den Bäumen hängen.
     
    Er wartete, bis es dunkel geworden war. Nun hörte er auch keine Stimmen mehr. Ihm war, als hielte der weite feuchte Raum, der sich über ihm erhob, den Atem an, nur um sich auf ihn zu stürzen, wenn er erst hinaustrat. Er versuchte, Sand und Kies unter den Füßen auszuweichen. Dennoch klang ihm der zischelnde Laut, als er vorsichtig durchs feuchte |586| Gras ging, wie ein Schrei in den Ohren. Entlang der flachen Erhebung, bei der sich der Erdkeller befand, erstreckte sich eine niedrige Steinmauer. Jenseits dieser Mauer war ein Stück Feld zur Rübenzucht abgeteilt. Er erinnerte sich, dass auf dem schmalen Streifen steinigen Bodens, der zwischen dem umgepflügten Rübenacker und dem Weg verlief, der an Praszkiers Werkstatt vorbeiführte, ein paar Apfelbäume gestanden hatten. Unerschrocken stieg er über die Mauer, dann über einen gusseisernen Zaun, der ihm von früher her nicht in Erinnerung war, der nun aber dastand: ein verrostetes Gitterwerk, das wie ein Käfig

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