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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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radieren sie rasch aus. Er glaubt, auch das scharfe Klingen von Spatenblättern zu hören. Wollen sie Samstag hier begraben? Und was heißt das für ihn? Kann er weiter hierbleiben? Können die Toten hören?

 
    |600| Von jetzt an trägt er die Waffe stets bei sich, im Bund von Feldmans Hose. Die Hose ist derart weit, dass ihm die Waffe in den Schritt gleitet, sobald er eine unerwartete Bewegung macht. Nie könnte er mit dieser Waffe eine längere Strecke rennen. Doch es gefällt ihm, sie bei sich zu tragen, und es gefällt ihm, sie ab und an herauszuholen, um sie in der Hand zu halten und ein wenig näher zu betrachten.
    Man stelle sich nur mal vor: ein Jude mit einer Waffe.
    Dann und wann gibt er vor, einem der Deutschen, für die Lida tanzen musste, die Mündung an den Kopf zu halten. Jetzt bekommst du deine eigene Medizin zu kosten!, sagt er und dreht die harmlose Pistolenmündung gegen eine Hauswand oder einen Baumstamm oder was sonst zur Hand ist. Die richtigen Worte aber wollen sich nicht einfinden, und wenn es eine Deutschenschläfe ist, gegen die er die Pistolenmündung in seiner Einbildung richtet, will diese ebenfalls nicht auf die richtige Weise in Pulverdampf, Rauch und Blut zerbersten, wenn er schließlich den imaginären Schuss abgibt. Irgendetwas fehlt.
     
    Es ist spürbar kälter geworden.
    Feuchtigkeit steigt aus dem Boden.
    An den Straßen jenseits der Karola Miarki, auf der die Sommerresidenz des Ältesten lag und ehemals Schutzwachen der Sonder patrouillierten, stehen Ahorn und Eichen in Brand. Der Ahorn brennt mit hellerer Flamme vor dem dumpfen rostbraunen Feuer der Eiche; nach Tagen voller Regen und Nebel sind die Blätter feuchtblank, gesäumt von einem schwachen Silberstreifen nach klaren, frostigen Nächten.
    Ja, der Frost ist im Anmarsch. Er weiß, früher oder später muss er mit dem Heizen beginnen. Falls er überhaupt etwas zum Heizen findet.
    Noch schläft er auf Dielenstücken, die er aus dem Küchenfußboden gebrochen und im Keller des Grünen Hauses ausgelegt hat; eingewickelt |601| in eine alte Pferdedecke, die er unten bei Feldman gefunden hat. Doch schon bald wird das nicht mehr genügen. Mit jedem Tag steigt die Feuchtigkeit die Wände höher hinauf. Überall, wo sie kann, frisst sie sich hinein: in Arm- und Leistenbeuge, selbst unter die Haut. Am Ende ist ihm, als dringe sie bis ins Mark seiner Knochen. Er spürt, wie sie sein Rückgrat erfasst; selbst den Kopf nimmt sie in ihren eisernen Griff.
    Der weiße Atem vor ihm ist wie Todesnebel.

 
    |602| Er hat keinen Begriff von Tag oder Zeit. Doch aufgrund des Lichts, wie es auf den Feldern liegt und die Konturen des Grüns auspinselt, das zwischen Baumstämmen und Steinmauern übrig ist, versteht er, dass es gegen Ende Oktober sein muss.
    Der Frost kommt in den Nächten nun häufiger, ebenso wie die weißen kalten Nebelschwaden am Morgen, die zuweilen bis spät am Tag liegen bleiben, dick wie Sirup.
    Er schaut die Sonne an, die über dem Horizont steht, als hinge sie, gedunsen und eingeschnürt, in einem gigantischen Laken. Vögel fliegen hinter den steinernen Umzäunungen auf und kreisen mit lautem Krächzen in der Luft, so als rollten gewaltige schiefe Wagenräder über den Himmel.
    Auf dem Steinbrunnen vor dem Grünen Haus sitzend, sieht er eines Tages einen Mann die Zagajnikowa heraufkommen.
    Obgleich der Mann noch immer so weit entfernt ist, dass er nicht mehr als die Konturen seines Körpers unterscheiden kann, weiß er, dass es Feldman ist. Es ist diese Art, wie er sich vor jedem Schritt leicht duckt und zugleich den ganzen Körper auf eine lange, beharrliche, mechanische Gangart einstellt. Kein anderer Mensch läuft so.
    Er löst die Sicherung der Pistole und stützt den rechten Arm mit der linken Hand, während er ihn ins Visier nimmt. Hält den Arm so lange ausgestreckt, bis Feldman nahe genug heran ist, um zu sehen, was Adam in Händen hat.
    Feldman hält inne, starrt direkt in die Pistolenmündung. Stumm, verständnislos.
    Auch Adam rührt sich nicht.
    Feldman bewegt sich langsam seitwärts weiter, als wollte er aus der Schussbahn kommen. Adam folgt ihm mit der Pistole. Feldman wirkt so bestürzt, dass Adam nicht umhin kann zu lachen. Er lässt die Waffe in den Schoß sinken.
    |603| Wo in aller Welt hast du die denn her?, fragt Feldman, als er schließlich bei ihm ankommt. Unter Mantel und Mütze scheint er womöglich noch mehr eingeschrumpft als zuvor; aber es ist derselbe Feldman.
    Warum bist du so lange

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