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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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als Biebow die Anweisung erteilt hatte, dass alle Musikinstrumente des Gettos zum Verkauf abzugeben waren; falls es da nicht schon längst zu Holzspänen zerhackt worden war.
    Doch auch hier hinein reichte der Gestank.
    Er riss ein Stück von der Gardine ab, die auf die umgestoßene Couch in der hinteren Zimmerecke geschleudert lag, und band sich den Stoff als Maske vor Nase und Mund.
    Dann stieg er die Treppe hinauf.
    Er ging langsam, zögerte bei jedem Schritt und lauschte.
    Die letzten Personen, die sich hier aufgehalten hatten, mussten die Treppe zum Verrichten ihrer Notdurft benutzt haben, denn hier und da auf den Treppenstufen lagen eingetrocknete Reste menschlicher Fäkalien. Zusammen mit Stofffetzen, ausgerissenen Seiten aus Büchern und den Schreibheften der Kinder; dort die Reste eines Schuhs, eines Männerschuhs, dem Hacken und Oberleder fehlten.
    Im Obergeschoss gab es keinen Zweifel mehr, woher der Leichengestank rührte.
    Eine Hand an die provisorische Gesichtsmaske gepresst, die andere als Stütze an der Wand, ging er den Korridor zum Zimmer des Direktors hinunter und drückte die Tür mit dem Ellenbogen auf.
     
    |595| Werner Samstag lag rücklings auf dem schmalen Sofa neben Direktor Rubins Schreibtisch. Es bestand kein Zweifel, dass es Samstag war. Er trug dieselbe, vermutlich neugeschneiderte, nun aber stark verschmutzte Polizeiuniform, die er angehabt hatte, als er bei Feldman aufgetaucht war, um ihm Lajbs Liste der potentiellen Widerstandskämpfer und Attentäter abzulocken.
    Sein Kopf musste auf der Seitenlehne des Sofas gelegen haben, doch nach dem Abfeuern des Schusses (oder aufgrund des Abfeuerns) war er hinuntergerutscht und hing nun ein Stück über dem Fußboden. Gerade die Tatsache, dass der Kopf und der halbe Oberkörper hinunterhingen, während der Rest des Körpers weiter ausgestreckt auf dem Sofa lag, verlieh dem Gesicht ein seltsames Aussehen. Die linke Kopfseite, dort, wo der Schuss eingedrungen war, war schwarz von geronnenem Blut. Der Rest des Gesichts aufgequollen und fast blau, die Zunge ragte zwischen den Lippen hervor, so dass der tote Kopf eine Grimasse zu schneiden schien.
    Versuchsweise machte er einen Schritt ins Zimmer, sofort erhoben sich Schwärme von Fliegen von der gedunsenen, stinkenden Leiche. Würmer wimmelten in der offenen braunen Kopfwunde und am Hals. Doch was ihn am meisten interessierte, war die Pistole, die noch immer in Samstags rechter Hand steckte.
    Woher hatte er die Waffe gehabt?
    Es war vollkommen undenkbar, dass sich Samstag eine derartige Macht verschafft hatte, dass er bewaffnet wie ein Deutscher im Getto umherlaufen konnte.
    Jemand musste ihm die Waffe besorgt – oder sie gegen ihn verwendet haben.
    Adam befand sich nun ganz in der Nähe der Leiche. Blut von der Schusswunde war aufgrund der Körperhaltung innerhalb des Jackenärmels an Schulter und Unterseite des Arms entlanggelaufen und hatte sich über dem Handgelenk verzweigt, das schwer und fest am Boden ruhte. Auch die um den Pistolengriff geschlossenen Finger waren von dickem geronnenem Blut umhüllt. Adam riss sich den Stofffetzen vom Mund, benutzte ihn als Handschuh und versuchte Finger für Finger aufzubiegen, um so an die Pistole zu gelangen.
    |596| Es war, als ginge ein Seufzer durch den erstarrten Körper, so als wehrte er sich auch im Tod dagegen, dass sich jemand an ihm vergriff. Nach kurzer Zeit aber gelang es Adam, alle Finger aufzubrechen und die blutbesudelte Waffe freizubekommen.
    Er wickelte die Pistole sorgfältig in den Stoff und nahm sie mit hinunter in die Küche, wo er Tische und Stühle aufstellte, etwa so, wie sie früher gestanden hatten. Somit hatte er wenigstens eine Möglichkeit zum Sitzen.
     
    Mit Wasser vom Brunnen auf dem Hof und einem weiteren Gardinenfetzen glückte es ihm, Lauf und Griff zu säubern. Nach dem Aussehen der Waffe zu urteilen, handelte es sich um eine ganz gewöhnliche deutsche Parabellum, wie sie deutsche Offiziere in ihren Pistolentaschen trugen. Adam Rzepin wusste von Waffen als Einziges, wie sie aussahen und wie Menschen, die sie trugen, sich verhielten.
    Im Magazin aber befanden sich keine Patronen mehr.
    Die Kugel, die Werner Samstag getötet hatte, musste die letzte gewesen sein.
    Als Waffe betrachtet, war die Pistole also wertlos, sofern er nicht oben in Rubins Zimmer weitere Magazine versteckt fand.
    Er saß da und wog die Waffe in der Hand, versuchte sich vorzustellen, wie viel er dafür erhalten hätte, wenn er sie auf der Pieprzowa

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