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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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aus taillenhohem Gras und wilden Himbeerbüschen ragte.
    Nun stand er unter den Bäumen. Ihre Kronen verloren sich im Nachtdunst über ihm. Er sah, wo die Äste begannen, nicht aber, wo sie endeten.
    Rundum war es totenstill. Nicht einmal ein Vogel, der mit klatschenden Flügeln erschrocken die Flucht ergriff. Er meinte, die hängenden Früchte in der Finsternis wie Klumpen schwärzeren Dunkels auszumachen. Oder bildete er sich das nur ein, weil der Gedanke, dass an dem Baum noch Früchte hingen, so berauschend stark war, dass er alles andere besiegte?
    Mit beiden Händen um den dicken Stamm versuchte er die Äpfel herunterzuschütteln. Die am weitesten unten befindlichen Äste bewegten sich kaum. Da schlang er auch die Beine um den Stamm, schaffte es, eine tiefgelegene Astgabel zu erreichen und sich hinaufzuziehen. Doch was er für Äpfel gehalten hatte, waren nur Laubbüschel, die Äpfel hingen weiter drin und waren unreife Früchte. Sie schmeckten sauer und bitter; schon bald brannte ihm der Gaumen, und die Kiefer schmerzten. Dennoch aß er weiter, nahm Feldmans dicke Schaffellhose in der Taille zusammen und füllte die Falte mit all dem Obst, das er zu fassen bekam.
    Stand dann wieder auf dem Boden unter dem Baum, die Stille um ihn war überall zerbrochen. Doch kein Laut mehr, als die letzte Astgabel zurückgefedert war. Keine Bewegung außer seinen eigenen Atemzügen und dem Rauschen des Blutes hinter den Augen.
    Wohin waren all die Stimmen verschwunden?

 
    |587| In dieser Nacht träumte er, Lida und er wären in einem von Feldmans vielen blanken Glasbehältern eingesperrt. Zwischen den Glaswänden war es derart eng, dass sich keiner von ihnen zu rühren vermochte. Als es ihm schließlich gelang, seinen Kopf zu befreien und das Kinn nach unten zu drücken, sah er, dass sein eigener Arm und Lidas Brust und Kinn ebenfalls aus Glas waren und dass ihre Körper unterhalb des Halses zu einem einzigen gläsernen Körper verschmolzen waren. Brust, Bauch und Rumpf gingen fast gänzlich ineinander auf, und ihre halb durchsichtigen Schultern und Köpfe waren nur so weit getrennt, dass sie mit knapper Not die Gesichtszüge des anderen erkennen konnten.
    Und keiner von ihnen vermochte sich zu rühren.
    Schleim – oder vielleicht war es nur ungewöhnlich dicker Speichel – rann Lida aus dem Mund, und noch während der Speichel lief, erstarrte auch dieser und gefror zu Glas. Er wollte sich vorrecken und ihr den kalten Schleim von den Lippen lecken, doch alles, was er vermochte, war, sein Gesicht zur Seite zu drehen, und da schlug sein zerbrechlicher Kopf gegen die Wand des Behälters.
    Er leckte stattdessen den grünen Belag von der Innenseite des Gefäßes.
    Der Belag war überraschend dick und kratzig, doch obgleich ihm ein übler süßlicher Geschmack auf der Zunge blieb, konnte er nicht aufhören, all das Grün aufzuschlecken.
    Nun schmerzte und spannte der Hunger in der Bauchhöhle, als wäre sein Körper, als er mit Lidas zusammenwuchs, zu einer gigantischen Glasbeule geworden: darin ein glänzender, scharfflächiger Hungerball, der seine Eingeweide zerschnitt.
    Er erwachte in der Dunkelheit mit entsetzlichen Krämpfen und schaffte es mit knapper Not zu dem Absatz hinunter, den er als Abort benutzte, bevor der Kot auch schon spritzte.
    |588| Krampf um Krampf, bis es ihm vor den Augen schwindelte.
    Notdürftig säuberte er sich mit den Kleidungsstücken, die er hatte, verstand jedoch zugleich, dass er unmöglich in diesem Kellerbrunnen bleiben konnte. Mochte das Risiko einer Entdeckung auch noch so groß sein.

 
    |589| Von jetzt an hielt er sich zumindest ein paar Stunden pro Tag »oben« auf.
    Die Tage waren mild. Die Feuchtigkeit, die Himmel und Landschaft abends und nachts in einen undurchdringlichen Nebelkokon hüllte, blieb tagsüber als leichte Verschleierung des Sonnenlichts zurück. Häuser und Bretterschuppen mit ihren ungestrichenen Holzwänden und den klobigen Ecken, Zäune und Steinmauern, die Bäume mit ihren nun herbstlich schweren, nassen Laubkronen: Alles erhielt weichere Konturen. Das Gras unter seinen Füßen wurde fahl. Vermutlich trugen Hunger und Mattigkeit zu dem Gefühl bei, dass alles weicher wurde. Doch war ihm auch so, als löse er selbst sich auf. Oder vielmehr, dass er herausgelöst wurde: zu einem unwirklichen Schweben.
    Eines Tages meinte er in der Ferne Schüsse zu vernehmen. Zunächst nur hier und da einen Knall, dann gefolgt von knatterndem Maschinengewehrfeuer.
    Die Schießerei

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