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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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dauerte, mit kürzeren und längeren Unterbrechungen, vielleicht zwanzig Minuten an. Er lauschte konzentriert, um festzustellen, ob das Echo schrumpfte und die Schüsse näher kamen. Doch nichts dergleichen geschah. Dann wurde es vollkommen still, und er vergaß rasch, was er gehört hatte.
    An einem anderen Tag glaubte er ein paar Gestalten zu sehen, die sich draußen auf dem großen Feld neben dem Begräbnisplatz bewegten. Ein gutes Dutzend Männer, die gleichsam in einer Reihe liefen, einer hinter dem anderen. In dem bleichen Sonnendunst verschwammen die Konturen der Körper, und am Ende waren sie gänzlich verschwunden.
     
    Er dachte an Feldman.
    Warum kam er nicht? Hielten die Deutschen ihn die ganze Zeit über eingesperrt oder unter so strikter Bewachung, dass es keine Möglichkeit |590| gab, sich zu entfernen? Oder noch schlimmer: Hatten sie ihn bei dem Versuch, erneut nach Marysin zu gelangen, ertappt und erschossen?
    Er wusste, mit dieser Möglichkeit musste er rechnen.
    Wenn Feldman nicht kam, musste er versuchen, auf eigene Faust klarzukommen.
     
    Tagtäglich, soweit es seine Kräfte zuließen, erweiterte er das Gebiet seiner Erkundungen.
    Das Gelände jenseits des Erdkellers, wo er in der Nacht die verschrumpelten unreifen Äpfel heruntergerissen hatte, war mit kleinen Holzhäusern und Bretterschuppen bestanden, die in wuchernder Vergessenheit versanken. Viele von ihnen hatten vormals reichen »Städtern« gehört, Leuten mit
plejzes.
Wohnten die nicht selbst hier, hatten sie die Häuschen an Personen mit noch besseren Kontakten »vermietet«. Der Vermittler war ein Mann namens Tausendgeld gewesen.
    In mehreren der Häuser standen Türen und Fenster nun dem Herbstlicht weit offen.
    Verlassene Räume: Schlafzimmer mit umgestoßenen Betten, aus denen die Sprungfedern in alle Richtungen ragten; geöffnete Schranktüren, deren Inhalt halb heraushing; auf dem Boden allenthalben zertrampeltes Bettzeug und Kleidungsstücke. In den Küchen indes nichts oder nur sehr wenig von Wert.
    Von Wert waren Dinge, die man essen konnte. In einem unverschlossenen Küchenbüfett fand sich ein trockenes Stück Brot, so hart und schimmlig, dass er nicht einmal die Zähne hineinbekam. Er versuchte, das ganze Stück im Mund zu halten, aber auch dadurch wurde es nicht weicher.
    In einem anderen Haus stieß er auf eine Konservendose mit Bohnen. Nach mehrstündiger Arbeit konnte er den Deckel mit einem Stein und einem dicken Meißel aufbiegen, nur um zu sehen, wie ihm der vergorene Inhalt als giftiger Schaum über den Handrücken quoll. Der Gestank war so entsetzlich, dass er nicht einmal dann verschwand, als er die Hände im kalten Brunnenwasser wusch und sie mit Sand abschrubbte.
    In einem weiteren Haus fand er Geld in einem Schrank. Rumkies. |591| Am Boden aller drei Schubladen hatte man Wachstuch befestigt, und unter den Wachstuchschichten lagen Scheine, Hunderte von Scheinen, fein säuberlich glattgestrichen, um auch nicht die kleinste Beule erkennen zu lassen. Er stand da, die wertlosen Gettomarkscheine in der Hand, und als er daran dachte, wie jemand dieses lächerliche Papiergeld Jahr um Jahr zusammengespart, wie er geknausert hatte, in dem Glauben, sich irgendwann etwas dafür kaufen zu können, fing er an zu lachen. Minutenlang wankte er, die wertlosen Scheine in der Hand, zwischen den Zimmern des Hauses hin und her und krümmte und bog sich vor Lachen. Schließlich besann er sich. Wenn er so weitermachte und seine Energie an hysterische Ausbrüche verschwendete, blieb ihm bald keine Kraft mehr.
     
    Er war bis zur Marynarska hinuntergelangt, an die Ecke zur Zbożowa. Auf der anderen Seite des Viertels lag das Zentralgefängnis, in dem einst der mächtige Shlomo Hercberg regierte und wohin man später diejenigen brachte, die in die sogenannte Arbeitsreserve verwiesen waren. Er überlegte gerade, ob das Gefängnis noch immer bevölkert sein könnte, womöglich als Kaserne diente, als unversehens ein gewaltiges Krachen den Himmel zerriss.
    Drei Düsenjäger in dichter Formation, in erschreckend niedriger Höhe.
    Blitzschnell warf er sich zu Boden und schlang die Arme um den Kopf.
    Eine Sekunde später, wie eine Art Nachsinnen, das Geheul der Flugabwehrsirenen in Litzmannstadt. Und gegen das zügellose Jaulen, das plötzlich das Luftmeer erfüllte, half es auch nicht, die Arme an die Ohren zu pressen. Wie mit Sägeblättern schnitt der Lärm hinein. Dann zerbarst der Himmel erneut mit gewaltigem Krachen, und die drei

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