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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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hätte verkaufen können, gewiss mehrere tausend Mark, falls es überhaupt jemand gewagt hätte, sie anzufassen oder weiterzuverkaufen. Hätte die Gestapo davon Wind bekommen, dass auf dem Schwarzmarkt echte Waffen kursierten, hätte sie ganz sicher das gesamte Getto in die Luft gesprengt.
    Ob Samstag die Waffe jedoch bekommen, gekauft oder gestohlen hatte, war letztlich von keinerlei Bedeutung. Das Wichtige war, dass er – Adam – sie jetzt in seinem Besitz hatte.
    Und Werner Samstag hatte er ebenfalls in seinem Besitz.
    Mit einem Mal waren Adam zwei Dinge klar:
    Wenn die Leiche liegen blieb, gab es eine Möglichkeit, dass er selbst der Entdeckung entging. Die Hunde – wenn sie kamen – würden sofort aufgrund des toten Körpers anschlagen. Daraufhin würden die Deutschen, |597| die kamen, sich umgehend daranmachen, den Toten hinauszuschaffen, ihn zu begraben oder zu verbrennen. Dann würden sie sich hoffentlich nicht weiter um das Grüne Haus kümmern.
    In der Küche des Grünen Hauses sitzend, im rasch bleicher werdenden, rundum durch die Fenster fallenden Licht, beschloss er, bei jenem Samstag einzuziehen, der sich am Ende entschlossen hatte heimzukehren. Samstag durfte gern im Direktorzimmer des Grünen Hauses liegen bleiben. Er selbst würde im Keller wohnen.

 
    |598| Nur wenige Tage, nachdem er sich im Grünen Haus eingerichtet hatte, kamen sie tatsächlich. Sie hatten Hunde bei sich, genau wie er vermutet hatte. Das Einzige, was ihn überraschte, war, dass sie so früh erschienen, noch bevor er überhaupt aufgewacht war, und das tat er stets lange vor Tagesanbruch. Über sich hörte er Militärstiefel auf den Dielen knarren und schaben. Rufende Stimmen. Heftiges Rumsen und Krachen, als würden Gegenstände vorgezogen oder umgekippt. Jemand fluchte, lang und ausdauernd, auf Deutsch.
    Er bat Lida, sie möge sich doch bitte besinnen.
    Schon als er wieder ins Grüne Haus gekommen war, hatte er verstanden, dass Lida das nicht ertrug. Die Entdeckung von Samstags Leiche hatte die Sache kaum besser gemacht.
    Den ganzen Tag über hatte sie sich unruhig hin und her bewegt, und am Abend stürzte sie erneut auf ihn zu. Er hockte in dem, was früher die Küche des Grünen Hauses gewesen war, und suchte einen Schrank mit Kochtöpfen durch. Die Dämmerung war hereingebrochen, und die Dunkelheit reichte bis zu den blanken Tischflächen hinauf, und das Einzige, was er sah, waren ihre ausgestreckten Hände, die durch die Finsternis fuhren, die gespreizten Finger einwärts gekrümmt, als wollte sie ihm die Augen auskratzen. Wieder war ihr Gesicht aus Glas, Lippen und Wangen erstarrt zu einem Ausdruck, der keiner mehr war, nur eine abscheuliche Maske oder Grimasse. Rasch glückte es ihm, unter einen der Tische zu kriechen und die blanke Tischplatte als Schild vor sich zu ziehen.
    Er verstand nicht, woher Lidas Zorn rührte. Solange sie am Leben gewesen war, hatte er diesen Hass nie erlebt. Was war mit ihr geschehen, als sie die Grenze zur Welt der Toten überschritt, wenn es nicht einfach die Tatsache war, dass zwischen Toten und Lebenden noch immer eine Grenze existierte.
    |599| Jetzt fleht er sie an, und er lässt seine Bewegungen bewusst verhalten und weich ausfallen, um den Zorn in ihr nicht aufs Neue zu wecken.
     
    Doch nun sind die Deutschen direkt über ihm.
    Die Hunde knurren und kläffen, ihre Krallen kratzen am Holz der Kellerluke.
    Er hört Stiefel im Kreis trampeln.
    Vermutlich suchen sie die Öse, um die Kellerluke aufzuziehen.
    Hinter ihrem Glasgesicht hockt Lida und hält wie er den Atem an.
    Knarrend öffnet sich die Luke direkt über ihm. Ein irrender Taschenlampenstrahl fängt nackte Mauerwände ein, deren rissiges geädertes Muster er nun zum ersten Mal sieht.
    Dann hört man jenseits des scharfen Lichts plötzlich eine Stimme:
    Franz! Komm hoch zu mir! –
und die asthmatisch keuchenden Hundemäuler, die soeben über die Lukenkante fuhren, werden an ihrer Koppel zurückgerissen, und die Klappe fällt mit einem schweren Krachen zu, das ihn hochhebt und einhüllt in eine Wolke aus Holzspänen und altem Kohlenstaub. In der Finsternis sind Lida und er nun wieder Körper ohne Maß und Schwere.
    Noch eine Zeitlang sind die Deutschen auf dem Fußboden über ihm zugange. Er hört, wie das Holz unter langsamen, schweren Schritten knackt und knirscht. Vermutlich tragen sie die Leiche die Treppe hinunter. Dann sind sie plötzlich außerhalb des Gebäudes. Die Stimmen haben einen anderen Klang, Wind oder Abstand

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