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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Pistole in die Luft.
    Feldman schüttelt nur den Kopf.
    »Und Biebow …?«
    Der wanke meist stockbesoffen durchs Getto. Beschäftige sich mit raffiniertem Zielschießen auf die Leute. Barhäuptig, mit hochgekrempelten Ärmeln, die Flasche in der einen Hand, die Dienstwaffe in der anderen. Sie würden sagen:
Biebow kommt
. Und gingen sofort in Deckung, sobald er um die Ecke biege. Von den früheren
dygnitarzy
des Gettos sei nur noch Jakubowicz hier. Er habe die Verantwortung für das, was von der Zentralschneiderei noch übrig sei, degradiert zum
kierownik
, aber jedenfalls wäre er der Deportation entkommen, im Gegensatz zu all den anderen hohen Tieren. Nun aber sei auch die Schneiderei geschlossen und ausgeräumt – die Maschinen sollten nach
Königs Wusterhausen;
die ganze vorige Woche hätten sie mit dem Umzug zu tun – und Biebow habe seinen letzten Vertrauten verloren, den einzigen Juden im Getto, bei dem er vermutlich spürte, dass er vollkommen offen reden könne.
    Schließlich erhebt sich Feldman.
    »Und wann kommen die Russen?«, fragt Adam.
    Er fragt, wie ein Kind gefragt hätte. Die Worte groß wie Plakatbuchstaben und die Hand ausgestreckt, als erwarte er, dass ihm Feldman die Antwort hineinlegt.
    Doch Feldman in seinem weiten Mantel zuckt nur die Schultern. Als hätte man die Frage derart oft und derart lange gestellt, dass sie vollkommen belanglos geworden ist. »Vielleicht überlegen sie es sich noch anders, wenn sie erst in der Nähe sind. Vielleicht nehmen sie sich zuerst |606| den Balkan vor. Bulgarien hat Deutschland bereits den Krieg erklärt. Die Alliierten haben Belgien und Holland genommen, sind auf dem Marsch nach Paris. Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit.« Aber die Zeit, die Zeit: Was geschieht mit der Zeit?
    »Ich werde erfrieren, bevor sie kommen«, sagt Adam.
    Er kann es nicht anders ausdrücken.
    »Du erfrierst nicht, Adam«, sagt Feldman. »So jemand wie du erfriert nicht.«
    Dann dreht er sich um und geht zur alten Gärtnerei hinunter, um seine Spaten zu holen.

 
    |607| Einsam liegt er auf den herausgebrochenen Dielenstücken im Keller des Grünen Hauses.
    Er denkt an die Zeit, als er auf dem Güterbahnhof schuftete. An alles, was ein- und ausgeladen wurde. Zuerst wurden Menschen hergebracht, dann wurden sie fortgebracht. Maschinen wurden hertransportiert, dann wurden sie abtransportiert. Er denkt an die langen Frachtzüge mit Maschinenteilen, die in den Nächten eintrafen; daran, wie er und die anderen Arbeiter im starren Scheinwerferlicht Versandkisten trugen: sie auf ihren bloßen Rücken zu den wartenden Lastwagen schleppten. Für die schwersten Maschinenteile mussten sie Vorrichtungen konstruieren, um diese auf die Karren hinunterzuwuchten.
    Und nun wurde all das erneut aus dem Getto abtransportiert.
    Wie viele Leute konnte das Räumkommando in der Jakuba noch haben? Feldman glaubte, dass es im Höchstfall fünfhundert waren; Frauen für sich, Männer für sich.
    Reichten fünfhundert, um die Erinnerung an eine Stadt von maximal mehreren hunderttausend auszulöschen?
    Er denkt an Jankiels Kopf, der wie ein schmutziger Apfel auf dem Schotter liegt, Steinchen und Kohlengrus im breitgelaufenen Blut klebend. Lida hockt neben dem gefallenen Körper, ihre langen schmalen Arme leblos zwischen den Knien hängend.
    Unverwandt sieht sie den Bruder an.
    Hinter ihr kommen all die anderen – Gelibter, Roszek und Szajnwald mit dem Klumpfuß – Rücken und Schultern, die er so oft gesehen hat, wie sie sich mit kurzen, präzisen Bewegungen unter schwere Holzkisten schoben. Diese Rücken würde er selbst im Traum wiedererkennen, bekäme er sie erneut zu Gesicht, einen nach dem anderen, gebeugt, gekrümmt oder stolz durchgedrückt, wie Jankiels Rücken, wenn er sich aufrichtete, den Bauch vorschob und das Steißbein einzog, als würde |608| er es nie müde, zu zeigen, was er da vorn hängen hatte. Und stets lächelnd. Der Grund, weshalb Schalz wieder und wieder hingehen und zuschlagen musste. Damit dieses freche, sommersprossige Lächeln verschwand.
    Wohin führte man sie nun? Und warum ist er nicht bei ihnen?
    In der Finsternis des Kellers liegend, denkt er, dass es irgendwo einen Drehpunkt geben musste, wie wenn man Ausgleichsgewichte auf eine Waage legt und die Waage plötzlich kippt.
    Wenn die Deportierten und Toten mehr sind als die Lebenden, fangen die Toten statt der Lebenden zu reden an. Es sind einfach nicht mehr genug Lebende da, die eine ganze Wirklichkeit tragen

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