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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Bałucki Rynek entfernt.
    So nahe ans Herz des Gettos hat er sich zuvor nie gewagt.
    Das Kohlenlager war im Getto stets einer der am stärksten bewachten Orte. Vor dem Eingang standen Tag und Nacht jüdische Ordnungskräfte. Auch entlang des hohen Zauns, der das Lager umgab; ebenso auf der Rückseite, falls jemand auf die Idee kommen sollte, über die Parallelstraße an der Nordseite des Marktes hineinzugelangen. Der hohe Zaun steht noch immer, das Tor aber ist offen, und nirgendwo sind Wächter zu erblicken.
    Als er die Straße überquert, lassen seine Schritte tiefe Abdrücke im Schnee zurück. Er überlegt, ob er die Spuren hinter sich verwischen soll, vermutlich aber wäre der Schaden dann noch größer. Der Schnee ist jetzt feucht, er sieht, wie sich Schmelzwasser in seinen Fußabdrücken sammelt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bevor der Schneefall in Regen übergeht, und dann hätte es ohnehin keinen Sinn.
    |612| Er begibt sich weiter in den Hof hinein. Bei der Ankündigung neuer Heizmittelzuteilungen haben hier früher Tausende von Menschen angestanden, um ihre Rationen von fünf oder zehn Kilo Brikett abzuholen. Er erinnert sich, dass die langen Schlangen ihren Anfang bei dem schmalen Lagerhaus nahmen, einer Baracke, fast identisch mit jener der Gettoverwaltung auf dem Bałucki Rynek, und dass sie dann weit die Łagiewnicka hinunterreichten. Es war eine Art Sport, die Schlange zu überlisten, eine imaginäre Tante oder Cousine vorzuschieben, die einem vorn am Ausgabetisch einen Platz freihielt. Bei jedem Versuch, sich dazwischenzudrängen, brach in der Reihe dahinter Tumult aus. Die Leute schrien ihren Protest heraus, und die Wachhabenden kamen angestürzt und prügelten mit ihren Schlagstöcken auf alle ein, die hinter ihrem Rücken einen Vordrängler zu verbergen schienen.
    Jetzt steht er erneut hier. Der Hof vor ihm weit offen und leer unter dem Schnee, der vom Himmel fällt.
     
    Im Grunde hat er keine Hoffnung, etwas zu finden. Wenn es hier noch Kohle gegeben hat, als die letzte Marschkolonne das Getto verließ, dürfte man sie seit langem weggeholt haben.
    Die Tür zum Lagergebäude steht obendrein halb offen, lässt sich nicht schließen (das sieht er nun), da Verriegelung und Griff abgeschraubt sind. Er betritt das Halbdunkel, seine zögernden Schritte hallen trocken und frostig vom Dach und den nackten Wänden wider. Kaum etwas lässt sich unterscheiden. Ein niedriger Ausgabetresen im Vordergrund und dahinter: eine Tür, die vermutlich ins eigentliche Lager führt. Ebenfalls unverschlossen, dahinter aber wird es, wenn möglich, noch dunkler. Nun sieht er kaum die Hand vor Augen, macht ein paar Schritte aufs Geratewohl, stößt gegen eine Wand, dann verschwinden plötzlich Treppenstufen unter seinen Füßen. Am Boden der Treppe indes eine Tür, die sich aufschieben lässt.
    Er befindet sich auf einem geschlossenen Innenhof, vielleicht zwanzig mal zwanzig Meter, bedeckt von dezimeterdickem, unberührtem Schnee und am Ende begrenzt von einer hohen Mauer. Hier muss das Brikettlager gewesen sein. Direkt an der Mauerwand, der Grenze zum Mietshaus auf der anderen Seite, steht eine kleine Hütte, irgendeine Art |613| Geräteschuppen. Er begibt sich hinüber und zieht ein wenig lustlos an der Tür.
    Im Inneren finden sich keine Geräte – falls er das erwartet hat –, an der Wand jedoch stehen Holzreste gestapelt. Zwei beträchtliche Haufen, jeder gut einen Meter hoch; obendrein sind die Packen mit einem Seil umwickelt, als warteten sie nur darauf, dass jemand wie er kommt und sie holt. Einfache Bretterstücke, verschieden lang, vermutlich Bauholz, die meisten durchgebrochen. Sofort beginnt er mit dem Zählen. Zwei oder drei Bretterbündel passen wohl in jeden seiner Säcke; zwei weitere oder drei kann er unter den Arm klemmen. Schlimmstenfalls, wenn es zu schwer wird, kann er ein paar Bretterbündel unterwegs verstecken, um sie später abzuholen.
    Er zögert nicht, öffnet den Sack und stopft ihn voll. Soeben hat er mit dem zweiten begonnen, als er hinter sich ein Geräusch vernimmt.
    Ein dünnes, sprödes, kratzendes Geräusch. Es wäre ihm nicht aufgefallen, wenn inmitten des Schneefalls nicht diese absolute Stille herrschte.
    Dann Schritte auf dem kahlen Steinfußboden; derselbe Laut, der um ihn selbst ertönt ist, als er das Lagergebäude betreten hat.
    Jemand kommt hinter ihm her, hat vermutlich die Spuren im Schnee entdeckt.
    Er stopft das letzte Bretterbündel in den zweiten Sack, schleppt dann

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