Die Elenden von Lódz
könnten.
Nun versteht er. Daher rühren die Stimmen.
Wenn es dunkel und kalt ist und die Feuchtigkeit alle Grenzen verwischt, wird das Gleichgewicht verschoben, und der Himmel oben ist nicht mehr sein Himmel, er ist der ihre. Der Himmel, unter dem
sie
gehen, als sie von der Czarnickiego bis nach Marysin hinausmarschieren, in Reihen zu dritt oder zu fünft, den Wachtposten ein Stück links von sich; und die Kinder des Grünen Hauses, die vom Zaun des Kinderheims zuschauen, die Hände verloren zwischen den Gitterstäben hängend.
Damals
ist kein Laut von der Marschkolonne erklungen. Nun hört er all die Männer auf einmal singen. All die Rücken vor ihm singen. Einen tonlosen, mächtigen, tosenden Erdgesang, der in ihm anwächst und sich ausbreitet. Denn auch in ihm ist dieser Gesang. Die ganze Welt dröhnt und bebt von diesem Gesang. Er presst beide Arme gegen die Ohren, um den Gesang auszusperren, doch es hilft nichts. Wenn die Toten singen, hat der Gesang keine Fesseln und Bande, und es gibt nichts, was ihn dämpfen oder verdecken kann.
Als er endlich aufwacht, ist nur noch das Echo seines Schreis zu hören. Dieses Echo aber reicht weit: weit über ihn und aus ihm hinaus, so als hätte er selbst unverschuldet all die Konturen dieser Abwesenden und Toten in einer Reichweite von vielen tausend Kilometern gezeichnet.
Was bleibt dann von ihm selbst übrig? Einsam und unerlöst unter den noch Lebenden.
|609| Er kann sich nicht erinnern, schon ein einziges Mal in seinem Leben geweint zu haben. Nicht einmal, als sie ihm Lida nahmen, hat er geweint. Jetzt weint er, vielleicht vor allem, weil niemand mehr da ist, um den man weinen kann.
|610| Der Winter kommt. Es lässt sich nicht länger verhehlen.
Das Jahr ist wie ein altes Mühlenrad, es dreht sich mit seinen schweren Schaufeln immer im Kreis. Mal schnell, mal weniger schnell. Doch ohne sich stoppen zu lassen.
Eines Morgens streicht Schnee über die lange, leicht abschüssige Fläche unterhalb des Grünen Hauses. Der erste Schnee des Jahres. Der Wind reißt ihn in dünnen, weißen Schleiern mit oder formt ihn zu kleinen, energischen Besen, die gleichsam rundherum über die noch grünen Felder fegen.
Er weiß, dass die Zeit nun knapp wird, wenn er etwas Essbares und Heizmaterial finden will, das für einen ganzen Winter reicht.
Feldman ist noch ein paarmal hier gewesen.
Die bereits schwache Disziplin im Kollektiv an der Jakuba scheint noch weiter nachgelassen zu haben. Das Räumkommando wird immer sporadischer hinauskommandiert. Die Deutschen sitzen meist nur da, spielen Karten und trinken. Lebensmittel lassen sich immer schwerer ergattern, und Kohle oder Holz in größeren Mengen kann Feldman unmöglich mitnehmen, ohne dass es bemerkt wird.
Adam hat bereits in dem alten Werkzeugschuppen gewühlt und zwei leere Säcke gefunden, in denen Holz aufbewahrt worden ist. Nicht ein einziges Bretterstückchen ist zurückgeblieben, ganz unten aber liegt eine Handvoll feuchter, krümeliger Sägespäne. Es muss Holzabfall von einem Sägewerk sein; vielleicht ehemals ein Geschenk an Feldman. Er stopft die leeren Säcke unter den Mantel und geht ins Schneetreiben hinaus.
Irgendwie muss er damit gerechnet haben, dass der Schneefall vorübergeht. Der Wind hat darauf hingedeutet. War stark und böig, schnitt scharf in Gesicht und Hände.
|611| Der Wind aber legt sich, ohne dass der Schneefall aufhört. Stattdessen wird er immer dichter. Um ihn herum herrscht vollkommene Stille. Er geht durch einen Säulensaal aus dickem, fallendem Schnee.
Ihm wird klar, dass die Spuren im Schnee ihn verraten können, doch ist er schon zu weit die Marysińska hinuntergekommen, um es noch der Mühe wert zu finden umzukehren.
Irgendetwas muss er mit zurückbringen. Andernfalls hat er seine Energie umsonst vergeudet.
Er denkt an die früheren Gettowinter. Sobald der erste Schnee gefallen ist, wurde er schmutzig und hässlich. Von verstreuter Ofenasche, von Fäkalien und Abfall. Und dann diese langen Wege, von den Menschen ausgetreten: wie schmale schwarze Korridore durch den nicht weggeräumten Schnee.
Im Inneren der Schneevorhänge ist es nun nahezu unwirklich weiß und still. Nirgendwo Spuren.
Er geht, doch ihm ist, als gehe er nicht. Er geht, als würde er vorwärtsgetragen oder vielmehr gehoben durch die immer dichteren Portieren langsam fallenden Schnees.
Das zentrale Kohlenlager liegt in der Spacerowa, fast an der Ecke der Łagiewnicka, etwa hundert Meter vom
Weitere Kostenlose Bücher