Die Elenden von Lódz
weggeblieben?, erwidert Adam lediglich.
Feldman erklärt, man habe sie die ganze Zeit in der Jakuba einquartiert gehalten. Manchmal seien sie morgens in Arbeitsbrigaden aufgeteilt und an verschiedene Orte im Getto abkommandiert worden. Meist ginge es um Büros und Abteilungen, die gesäubert werden sollten. Tag für Tag hätten sie kiloweise Papier aus Archivschränken und Schubladen gekippt und dann alles in großen Tonnen verbrannt. Er habe keine Vorstellung davon gehabt, dass das Getto derart viel
Papier
produziert habe, sagt er.
Dann hätten sie sich die Werkstätten vorgenommen. Aus den Holzwarenfabriken in der Drukarska und Bazarna hätten sie Schneid- und Schleifmaschinen abtransportiert. Manche von ihnen hätten sogar die großen Dampfwaschkessel, die Mangeln und Betttuchpressen der Wäschereien auseinandergeschraubt und zerlegt. All das sei nach Radogoszcz gebracht und in westwärts gehende Züge verladen worden, weg von der Front.
Daher rührten die nächtlichen Geräusche. Der Konvoi marschierender Männer, den er am Horizont gesehen hat, ist also auf dem Weg zum Bahnhof gewesen.
»Ist denn noch jemand dort draußen?«, fragt er.
»Wo?«
»In Radogoszcz?«
Feldman schüttelt den Kopf.
»Nur wir aus dem Kommando. Ein paar hundert Leute, höchstens.«
»Jankiel?«
»Weiß nicht. Jankiel ist tot. Die meisten sind tot.«
Adam ist nicht überzeugt. Er merkt, dass es ihm langsam schwerfällt auseinanderzuhalten, wer tot ist und wer noch immer am Leben. Szaja,
der Vater
– Adam hat eine schwache Erinnerung daran, ihn in der Reihe der Männer gesehen zu haben, die vom Zentralgefängnis zum Bahnhof befehligt wurden. Und Lajb? Statt eines Gesichts sieht er nur Ratten |604| hinter rostigen Gitterstäben. Selbst Lida hat lebendiger ausgesehen als Lajb.
»Ich habe ein bisschen was zu essen für dich mit«, sagt Feldman.
Er wickelt ein Bündel auf, das er unter dem Mantel festgebunden hat, ein schmutziges Taschentuch, gefüllt mit ein paar trockenen Brotstücken; zwanzig Dekagramm Wurst, zwei verschrumpelten Kartoffeln. Adam sieht sich selbst all diese begehrenswerten Dinge berühren, nicht schnell oder gierig, sondern wie ein Insekt, das ein Stück Obst abtastet, langsam und zögernd. Es muss Wochen gedauert haben, diesen Schatz zu sammeln, jeden Tag eine Winzigkeit von der eigenen knappen Ration zu sparen.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«, fragt Adam.
»Ich wusste es nicht. Ich bekam den Befehl, Spaten zu holen.«
Adam vergisst die einfachsten Dinge. Jetzt hat er vergessen zu schlucken. Der Speichel rinnt ihm seitlich am Kinn hinunter. Feldman beugt sich vor und wischt ihn mit der Handkante fort.
»Hier gibt’s keinen Spaten«, sagt Adam. »Ich habe schon gesucht.«
Sie sitzen eine Weile schweigend da.
Dann fragt Feldman, wie es geht. Adam sagt, er komme klar mit dem, was er habe. Er gehe von Haus zu Haus. Nehme, was da sei. In vielen Gärten hänge noch Obst an den Bäumen: madige und frostgeschädigte Äpfel, mit einem Geschmack wie verschrumpelte unreife Früchte. Auf den ehemaligen Parzellen könne man auch Rote Beete aus der Erde kratzen. Er habe sogar frische Zwiebeln gefunden. Kannst du dir das vorstellen, Feldman? Richtige Zwiebeln. In einem der Häuser habe er einen Petroleumkocher entdeckt. Doch kein Petroleum. Er habe überlegt, ob er ihn mit Öl zum Brennen bringen könne. Der Kanister Heizöl, den er vom Bahnhof habe mitgehen lassen, stehe schließlich noch in der Gärtnerei, aber er habe es nicht gewagt, aus Furcht, jemanden anzulocken. Abgesehen von den Deutschen sei die ganze Zeit niemand hier gewesen, sagt er.
Während er erzählt, sitzt Feldman und blickt auf die Waffe in Adams Schoß. Deshalb muss Adam doch von Samstag erzählen. Eigentlich will er nicht, aber ihm ist klar, dass er keine Wahl hat.
Feldman sitzt lange wortlos da, so lange, dass Adam glaubt, er wolle |605| sich nicht zu der Sache äußern. Nach einer Weile aber sagt Feldman, sie hätten an der Jakuba über Samstag geredet. Manche glaubten zu wissen, dass er mit dem allerletzten Transport mitgefahren sei, in dem sich auch Rumkowski mit seiner Familie befunden habe. Einige seiner eigenen Leute sagten, man habe ihnen befohlen, nach ihm zu suchen. Dass sogar die Deutschen im Getto nach ihm gesucht hätten. Dass sie vor ihm Angst hätten. Insbesondere Biebow. Der solle sogar eine Belohnung in Aussicht gestellt haben für den oder diejenigen, die Samstag lebendig zu fassen bekämen.
Adam hält die
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