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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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der Chronik steht
gestorben von eigener Hand
. Im Getto aber sagte man nur, er oder sie sind
zu den Drähten gegangen
. Dieser Begriff erweiterte das bereits reiche Gettovokabular um einen Ausdruck, der nicht nur bedeutete, dass man sich das Leben nahm, sondern auch, dass man sämtliche Grenzen überschritt, die die Behörden dem Leben gesetzt hatten, wie es hier drinnen zu leben war.
    In der ersten Februarwoche 1941 gingen gemäß der Chronik sieben Menschen zu den Drähten. In bestimmten Fällen handelte es sich, milde ausgedrückt, um augenfällige Selbstmorde. Ein Büroangestellter mittleren Alters aus Rumkowskis Wohnungsabteilung war am helllichten Tag auf die Idee gekommen, unter dem Bretterzaun hindurchzukriechen, der die Stacheldrahtbarriere an der Nordseite der Zgierska verstärkte. Von allen Orten, die er für seinen Ausbruchsversuch wählen konnte, entschied er sich für den am besten bewachten im ganzen Getto. Dennoch dauerte es seine Zeit, bis man ihn entdeckte. Die Straßenbahn, die Deutsche und Polen quer durchs Getto transportierte, schaffte es, mehrere Male an dem an Kopf und Schultern feststeckenden Mann vorbeizufahren, bevor der Polizist im zweihundert Meter entfernten Schilderhäuschen mitbekam, dass etwas im Gange war. Da lag der Kontorist einfach nur platt auf der Erde und wartete darauf, dass der vor Schreck erstarrte Posten zu schießen begann.
    Andere Fälle waren weniger eindeutig.
    Häufig betraf es Arbeiter, die nach der Spätschicht heimkehrten.
    Alle, die im Getto unterwegs waren, hatten die Anweisung, sich so weit wie möglich von der Gettogrenze fernzuhalten. Es wurde ein |85| Sicherheitsabstand von zweihundertfünfzig Metern empfohlen. War man dennoch gezwungen, sich dem Draht zu nähern, sollte man das bei Tageslicht tun, vor den Augen der deutschen Wachtposten, und mit einem deutlich erklärten Ziel (falls man wider Erwarten gefragt wurde).
    Doch für müde, ausgepumpte Schichtarbeiter war es stets eine große Versuchung, zwei Häuserblöcke oder ein paar hundert Meter einzusparen, indem man den Weg zur nächsten Holzbrücke entlang der Gettogrenze abkürzte.
    Und vielleicht war es ja dunkel. Und der die Abkürzung Nehmende sah nichts.
    Der Wachtposten auf der anderen Seite sah vielleicht ebenfalls nicht deutlich.
    Und vielleicht verstanden der auf dem Heimweg befindliche Mann oder die Frau kein Deutsch.
    Vielleicht hörten er oder sie auch nicht, was der Posten schrie, weil im selben Augenblick eine Straßenbahn kam.
    Oder es kam keine Bahn. Der Posten schrie einfach, und den Mann oder die Frau, die längst daheim sein sollten, erfasste Panik, und sie fingen an zu rennen.
    Was vom Posten als Fluchtversuch gedeutet wurde. Und so fielen Schüsse.
    Zumindest vier der sieben Personen, die im Februar 1941 zu den Drähten gingen, wurden auf diese Weise getötet. Hatten sie den Tod bewusst gesucht, oder hatte die Erschöpfung ihnen die Sinne vernebelt? Oder existierte vielleicht kein Unterschied zwischen bewusster Absicht und unbewusster Entscheidung? Vielleicht lenkten sie ihre Schritte zur Grenze, weil es schlicht nichts anderes gab, wohin sie gehen konnten.
     
    Ein paar Wochen später, im März 1941, berichtet die Chronik, dass es der einundvierzigjährigen Cwajga Blum gelang, sich auf diese Weise das Leben zu nehmen, nachdem sie nicht weniger als dreizehn Mal versucht hatte, zu den Drähten zu gehen.
    Cwajga Blum wohnte in der Limanowskiego. Das einzige Fenster der Wohnung, die sie sich mit zwei anderen Frauen teilte, führte direkt auf die Absperrung hinaus. Die Limanowskiego war die Hauptverkehrsstraße |86| für die deutschen Transporte von Lebensmitteln und Arbeitsmaterialien, die am Bałucki Rynek ausgeladen wurden, und aus diesem Grund war sie besonders gut bewacht. Ein wenig weiter oben lag auch die dritte Holzbrücke des Gettos, die das nördliche und südliche Gettostück miteinander verband; deutlich sichtbar die rotweißen Schilderhäuschen am jeweiligen Brückenfuß. Cwajga Blum war mit ihrem Ansinnen zu dem Wärterhäuschen am südlichen Brückenfuß gekommen.
    Erschieß mich
, hatte sie zu dem Posten gesagt.
    Der tat, als hörte er nichts. Zündete sich eine Zigarette an, ließ den Gewehrriemen von der Schulter gleiten und nahm die Waffe auf den Schoß, gab vor, sich für bestimmte Details an Kolben und Mündung zu interessieren.
    Bitte
, flehte sie.
Erschieß mich.
    Abend für Abend stand derselbe Posten im Häuschen. Und es war immer dieselbe Cwajga.
    Nachdem die

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