Die Elenden von Lódz
seine Nase sei krumm, weil seine Mutter die Angewohnheit hatte, sie ihm bei jeder Lüge umzudrehen. Alle wussten jedoch, dass das gelogen war. Adam Rzepin wohnte nur mit seinem Vater und seiner zurückgebliebenen Schwester zusammen; eine Frau Rzepin hatte keiner je zu Gesicht bekommen.
Von den ersten Gettojahren war Adam nur der Hunger im Gedächtnis geblieben, der ihm wie eine ständig quälende Wunde in den Eingeweiden saß. Für junge Goldgräber Wache zu halten genügte auf die Dauer nicht, wenn man diese Wundschmerzen lindern wollte. Als Mojsze Stern also ein seltenes Mal an der Ziegelei vorbeikam und fragte, ob Adam nicht etwas für ihn erledigen könne, nahm Adam das Angebot dankend an und ließ die Bewachung sausen.
Mojsze Stern war einer von Tausenden von Juden, die sich nach der Abriegelung des Gettos durch den Handel mit jeder Art brennbaren Materials ein Vermögen beschafften. Die meisten verantwortlichen Familienväter versuchten, sich ein Lager mit Kohle oder Briketts anzulegen, was sie an verschiedenen geeigneten Orten durch Schlösser absicherten. Manche dieser Schlösser ließen sich aufbrechen – und schon war das begehrte schwarze Gold erneut auf dem Markt. Auch mit dem Verkauf einfacheren Brennholzes ließ sich Geld machen, beispielsweise aus alten Holzmöbeln, Küchenschränken mit Schubladen, Fußboden- und Fensterleisten, Treppengeländern und anderem mehr, was sich zersägen und bündeln ließ. Der Preis für ein derartiges Holzbündel sank im Sommerhalbjahr auf zirka zwanzig Pfennige das Kilo, doch wenn der Winter nahte, stieg er auf zwei oder drei
Rumkies
. Mit anderen Worten, man musste es wagen, auf die Nachfrage zu warten. In den allerschlimmsten Wintern, als auch die Kohlegruben unzugänglich waren, |78| verheizten die Leute buchstäblich alles, was sie zum Sitzen oder Liegen besaßen.
Wiederholt schlug die Polizei bei Mojsze Stern zu. Seine Mutter versuchte, ihn auf dem Trockenboden über dem Altersheim zu verstecken, wo er angeblich sein geheimes Lager hatte. Doch der Ordnungsdienst erschien auch dort und trieb ihn nach draußen.
Man munkelte, Stern versuche ein neuer Zawadzki zu werden.
Zawadzki war der Schmugglerkönig des Gettos. Man nannte ihn auch »Seiltänzer«, weil er die Gewohnheit hatte, seinen Weg über die Dächer zu nehmen. Das war die einzige Möglichkeit, von den arischen Stadtteilen ins Getto zu gelangen, denn bei den Gebäuden in der Nähe der Gettogrenze verliefen weder Wasser- noch Abwasserleitungen im Boden.
Parfüm, Damenseifen, Mehl, Zucker, Roggenflocken, Konserven, alles von echtem deutschem
kraut
bis zu eingelegten Ochsenzungen, waren einige der Waren, die durch Zawadzkis Vermittlung den Weg ins Getto fanden. Eines späten Abends im September 1940 wurde er vom jüdischen Ordnungsdienst an der Lutomierska, auf der im Getto liegenden Seite, erwischt, den Rucksack voller Kakaopulver, Zigaretten und Damentrikots. Die Polizisten brachten ihn zum Verhör in die Räume des ersten Polizeibezirks am Bałucki Rynek. Als die Deutschen erfuhren, dass die Juden Zawadzki selbst gefangen hatten, telefonierten sie nach einem Wagen aus Litzmannstadt. Da war den jüdischen Polizisten klar, dass es mit Zawadzki nun vorbei war, und sie fragten ihn, ob er einen letzten Wunsch habe. Er erwiderte, er möchte auf die Toilette gehen. Zwei Polizisten eskortierten ihn zu den Latrinen auf dem Hof. Mit der Handfessel befestigten sie Zawadzkis Arm an der Latrinentür, standen dann draußen Wache und behielten seine Schuhe fest im Auge, die im Spalt unter der verschlossenen Tür deutlich sichtbar waren. Gut eine Stunde starrten die Polizisten auf Zawadzkis Schuhe. Dann fasste sich einer von ihnen ein Herz und brach die Tür auf.
Die Schuhe waren da und auch die Handfessel, doch kein Zawadzki.
Eine weit offen stehende Dachluke zeigte, welchen Weg er genommen hatte.
|79| Der Schmuggler Zawadzki war eine Legende. Alle sprachen von Zawadzki. Aber Zawadzki war Pole – er kam aus den
arischen
Stadtteilen. Und wenn er sich so lange, wie er wünschte, im Getto aufgehalten hatte,
begab er sich wieder nach draußen!
Wenn Adam Rzepin davon träumte, frei zu sein, stellte er sich vor, er besitze Seil und Rucksack, wie der Schmuggler Zawadzki. Er träumte davon, dass er einmal wie Zawadzki einen großen Fang machte, etwas mehr im Leben werden würde als nur ein einfacher
luftmentsch
.
Adams Traum war eines Morgens der Erfüllung sehr nahe, als Moshe Stern einen seiner vielen Boten bei
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