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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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konnten sie nicht mit Sicherheit sagen, ob die Frau von der jüdischen oder der arischen Seite des Drahtes stammte; ob sie aus dem Getto geflohen war, nach draußen wollte, oder umgekehrt (es kam ja immer wieder vor – man denke nur an Zawadzki!), ob sie also versucht hatte, den Draht zu überwinden, um ins Getto zu kommen.
    Nachdem die Posten mit ihren Vorgesetzten beratschlagt hatten, entschieden sie, den Körper ins Büro des Judenältesten zu schaffen, damit die dortigen Mitarbeiter die Sache in die Hand nahmen. Zugleich forderte die Kripo sämtliche Tagesberichte der Wachmannschaft an, um festzustellen, ob irgendwo im Getto eine jüdische Person als vermisst oder verschwunden galt. Darüber hinaus wurden die Aufnahmebücher der Krankenhäuser durchforstet, ebenso die Patientenregister der in der Wesoła gelegenen psychiatrischen Klinik, in der viele der bessergestellten Gettobewohner ihre mental oder physisch geschwächten Angehörigen unterbrachten. Doch nirgendwo waren Fälle entwichener oder verschwundener Patienten gemeldet. Man glaubte deshalb mit Sicherheit sagen zu können, dass die Frau
nicht
aus dem Getto stammte.
    |90| Einer der Ersten, der sie untersuchte, war der »Arbeiterdoktor« Leon Szykier. Man nannte ihn den Arbeiterdoktor, weil er als Einziger der Gettoärzte von seinen Patienten keine unverschämt hohen Summen nahm, weshalb es sich auch ganz normale Leute leisten konnten, zu ihm zu gehen. Bei der Untersuchung hatte Doktor Szykier den Körper der Frau palpiert und ihn »ein wenig abgezehrt und ausgemergelt« gefunden, ansonsten indes ohne Anzeichen von Dehydrierung. An Unterschenkeln und Unterarmen war auch eine Art Schürfwunden oder Kratzer feststellbar, was darauf hindeuten konnte, dass die Frau versucht hatte, ein Hindernis zu überwinden. Im Übrigen wies ihr Körper keinerlei Verletzungen auf. Keine Schwellung im Hals. Kein Fieber. Puls und Atmung normal.
    Im Nachhinein wurde angedeutet, dass die reichliche halbe Stunde, die Szykier mit der Frau unter vier Augen verbrachte, genug gewesen sei, um »sie zu ruinieren«. Andere bestritten das natürlich. Allerdings bestand kein Zweifel daran, dass die Frau ruhig und friedlich auf der Trage lag, als die deutschen Polizeiposten sie ins Sekretariat brachten, während sie sich eine halbe Stunde später – nachdem Doktor Szykier sie verlassen hatte – in Fieberkrämpfen auf der Pritsche wand und unzusammenhängende Gebetsworte auf Hebräisch und Jiddisch ausstieß.
    Einige meinten sogar, von ihren Lippen Spuren der Worte des Propheten vernommen zu haben:
    Aschrej kol-Chochej lo –
     
    Denn der Herr ist ein Gott des Gerichts.
    Wohl allen, die sein harren.
     
    Die Neuigkeit von der gelähmten Frau und ihrem seltsamen Reden machte rasch die Runde. Der Älteste ließ sie ins Lehrgebäude der Chassidim in der Lutomierska bringen, wo ein Rebbe namens Gutesfeld und dessen Helfer Fide Szajn sich um sie kümmerten. Die Chassidim sollten später behaupten, dem Rebbe Gutesfeld wäre die gelähmte Frau bereits im Traum erschienen. In diesen Träumen sei sie nicht gelähmt gewesen, sondern in einer brennenden Stadt von Haus zu Haus gewankt. Sie sei |91| nicht in die Häuser eingetreten, sondern habe nur die Mesusa am Türpfosten berührt – als wolle sie den dort Wohnenden bedeuten, sie sollen aufbrechen und ihr folgen.
    In den Augen der Chassidim bestand kein Zweifel. Sie war eine
zaddika
; vielleicht eine Sendbotin, die nach zwei Jahren Krieg und dem schrecklichen Hungerwinter nun gekommen war, um den im Getto eingesperrten Juden ein wenig Trost zu spenden. Die Leute sollten sie später Mara,
die Betrübte
, nennen. Eine Zeitlang war sie die Einzige der damals knapp eine Viertelmillion Gettobewohner, die über keine feste Adresse und keine Brotkarte verfügte. Nicht einmal im Register der Kripo, das ansonsten jede Seele im Getto verzeichnet hatte und Monat für Monat vom Meldebüro der Statistischen Abteilung aktualisiert wurde, stand sie aufgeführt.
    Von außen betrachtet war sie eine Angelegenheit für das Rabbinat, das ihre Pflege jedoch bereitwillig dem Reb Gutesfeld überließ. Doch nicht einmal die Chassidim wagten es, die Frau bei sich zu behalten, also sah man den Rebbe und seinen Helfer oft durch die schmalen Gassen ziehen, die Frau auf einer Trage zwischen sich. Fide Szajn ging voran, während Gutesfeld, der schwach auf den Beinen war und obendrein schlecht sah, in seinem langen schwarzen Kaftan hinterherstolperte. Auf diese Weise legten

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