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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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hellen Gabardinemantel, der Adam an die amerikanischen Gangsterfilme erinnerte, die vor dem Krieg im Filmtheater Bajka liefen. Der Mann hätte überall in Europa an einer Straßenecke stehen können, wären da nicht die beiden Gestalten gewesen, die ihm wie Schatten folgten. Zwei bullige Männer: Sie sahen aus wie
politsajten
, trugen jedoch weder Mützen noch Armbinden.
    Hast du die Waren?
, fragte der Mann im hellen Gabardinemantel.
    Adam nickte.
    Erst da trat eine vierte Person hinzu.
    Im Nachhinein fragte sich Adam Rzepin, wieso er unmittelbar verstanden hatte, dass dieser vierte Mann ein deutscher Offizier war. Der neu Hinzugekommene war in Zivil, die Uniform aber, die er im Dienst trug, ließ sich deutlich an der wachsamen Art erkennen, wie sein gesamter Körper mitging, wenn er den Kopf drehte oder den Blick seitwärts richtete.
    Der Mann im hellen Gabardinemantel nannte ihn Herr Stromberg. Also war es Kriminaloberassistent Stromberg, einer der berüchtigtsten Gestapoleute des Gettos. Stromberg war
Volksdeutscher
, einer jener Deutschen, die schon lange vor der Ankunft der Nazis in Łódź gelebt und gearbeitet hatten.
    Stromberg lächelte unablässig, bewegte sich indes, als würde er durch dickflüssiges Abwasser waten. Stromberg warf nicht einmal einen Blick auf Adam, drehte sich nur zu dem jungen Mann um und fragte in seinem leicht singenden Polnisch:
    Das Geld hat er?
    |82| Und da seiner Frage ein bestätigendes Nicken folgte, schien sich Herr Kriminaloberassistent Stromberg in seinen zivilen Kleidern endlich zu entspannen.
    Adam meinte zu verstehen, dass nun der Moment gekommen war, das Paket zu übergeben; er reichte es dem Gabardinemann, der es seinerseits an Stromberg weitergab, der sogleich an dem Papier zu ziehen und zu zerren begann, wie ein ungeduldiges Kind an Chanukka. Kurz darauf hielt er eine glänzende Goldkette in den Fingern. Der Mantelmann machte eine rasche Handbewegung in Adams Richtung, so als wollte er ihn beschwören, sich abzuwenden, wie man sich abwendet, um eine Frau beim Ankleiden nicht in Verlegenheit zu bringen, und drückte Adam dann hastig einen Zehnmarkschein in die Hand.
    Dann waren die beiden verschwunden – der junge Jude im Gabardinemantel und auch der deutsche Kripochef. Nur die beiden Wächter standen noch da, die Arme drohend in die Seiten gestemmt, als wollten sie sichergehen, dass Adam ihnen nicht folgte.
     
    Es sollte mehrer Monate dauern, bis Adam verstand, wer der Mann im Gabardinemantel war, der Goldsachen an Stromberg verkaufte. Zu diesem Zeitpunkt sprach das ganze Getto von Dawid Gertler, dem jungen jüdischen Polizeikommandanten, der mit allen Offizieren der Besatzungsmacht auf bestem Fuß zu stehen schien.
    Adam wartete in der Schlange vor der Bäckerei in der Piwna. Jede Backstube buk inzwischen ihr eigenes Brot, und der Schwund war enorm; man musste früh aufstehen, um sich seine Ration zu sichern.
    In der Piwna. Die Brotschlange. Ein paar
dygnitarze
drängen sich vor.
    Erneut taucht der junge Mann im Gabardinemantel auf. Auch diesmal hat er zwei Leibwächter im Gefolge. Aus der Schlange erklingen Proteste. Die Leibwächter machen einen entschlossenen Schritt nach vorn, bereit, mit ihren Schlagstöcken auf die Lärmenden einzudreschen, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch diesmal geschieht nicht das sonst Übliche. Die Anzugträger aus Rumkowskis Beirat müssen zurückstecken.
    »Auch im Getto soll derjenige sein Brot zuerst bekommen, der am längsten gewartet hat«, erklärt der Mann im Mantel.
    |83|
Gertler, Gertler, Gertler …!
, rufen die Anstehenden, die Hände in der Luft und die Köpfe vorgereckt, so als feuerten sie ein Sportidol an.
    Und Dawid Gertler drückt den Hut an die Brust und verbeugt sich wie ein Varieteartist im Zirkus. Adam Rzepin gibt seinen Platz in der Schlange um keinen Preis auf; er hebt auch nicht den Blick, aus Angst, von dem mächtigen jungen Mann erkannt zu werden. Hätten die Leute in der Schlange noch immer applaudiert, wenn sie gewusst hätten, dass der junge Dawid Gertler bereit war, ihre eigenen Seelen zu verkaufen, nur um auch weiterhin auf vertrautem Fuß mit den verhassten Deutschen zu stehen?
    Vielleicht aber bedeutete das ja nichts.
    Wenn nur das Brot gerecht und an alle gleich verteilt wurde.

 
    |84| Eine der täglich wiederkehrenden Spalten in der Gettochronik betrifft die Anzahl Neugeborener und Toter. Daran anschließend gibt es eine Unterteilung mit den Namen jener, die von eigener Hand gestorben sind.
    In

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