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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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sie häufig mehrere Kilometer zurück, in Regen, eisigem Wind oder Schneetreiben. Dann und wann hielt der Rebbe inne und versuchte, mit den Fingern an einer Mauer oder Hauswand festzustellen, wo sie sich befanden, oder er hielt an, um Fide Szajn (der kranke Lungen hatte) aushusten zu lassen.
    Warum zogen sie umher? Warum gingen sie immer weiter?
    Manche meinten, der Grund war, dass sich die Frau nie still verhielt. Sobald die Männer die Trage abstellten, entrang sich ihrer Kehle ein gellender Schrei, und sie schlug mit den Armen wild um sich, als wollte sie unsichtbare Dämonen vertreiben. Andere sagten, in jedem Haus, in jedem Viertel verberge sich ein Denunziant, der nicht zögern würde, zur Kripo zu gehen, wenn er wüsste, dass sich die Frau dort aufhielte, und was geschähe dann mit der Betrübten?
     
    |92| An manchen Tagen kehrte der Rebbe mit der Trage indes zum Gebetsraum zurück, und an solchen Tagen versammelte sich stets eine blasse, doch zuversichtliche Schar vor dem Tor, in der Hoffnung, eine Berührung oder ein Blick der gelähmten Frau könnte die Schmerzen in den Armen vertreiben oder Wunden heilen, die nie heilen wollten, oder sogar diese Hungergeißel von ihnen nehmen, aufgrund derer zuvor gesunde, starke Männer sich nur noch wie Geister durch die Gettostraßen bewegten. Doktor Szykier, ein überzeugter Sozialist, der jeglichen Aberglauben verabscheute, versuchte den Ordnungsdienst zum Vertreiben der Menschen zu bringen, der Rebbe aber beharrte darauf, dass er im Traum auch das Kommen der Leute vorhergesehen habe und es eine Schmähung sei, Juden zurückzuweisen, die sich in dem Glauben hier versammelten, dass der Gott der Schrift auch durch einen seiner von weither gekommenen Sendboten ein Wunder bewirken könne.
    Eine der Wartenden war Hala Wajsberg, Adam Rzepins Nachbarin aus dem Haus in der Gnieźnieńska und Mutter von Jakub und Chaim, den beiden, die tagsüber an der alten Ziegelei in der Łagiewnicka nach Holz und Kohlengrus suchten. Hala Wajsberg hatte die Neuigkeit von Maras Gaben durch ihre Freundin Borka aus der Zentralwäscherei erfahren und ihren Mann Samuel überredet, einen Versuch zu wagen und mit seiner schmerzenden Lunge zu dieser Frau zu gehen.
    Während der ersten Monate nach der Abriegelung des Gettos hatte es noch keine Holzbrücken gegeben, sondern die deutschen Wachtposten hatten die Absperrung jeden Morgen für die Arbeiter geöffnet, die sich wie Samuel von einer Gettohälfte in die andere begeben mussten, um an ihre Arbeitsplätze zu gelangen. Die Öffnung erfolgte zu bestimmten Zeiten, und es kam darauf an, pünktlich zu jeder Öffnung zu erscheinen. Samuel kam es vor, als eilte er stets als Letzter über die Straße, bevor die beiden für das Öffnen zuständigen Posten den Stacheldrahtverhau zurückstellten, und eines Morgens
war
er tatsächlich der Letzte auf dem Weg nach draußen – noch bevor er begriff, was geschah, befand er sich ganz allein mitten im »arischen« Korridor und das Getto lag auf beiden Seiten versperrt und verschlossen da.
    Die gelangweilten deutschen Posten, die nichts anderes zu tun hatten, als tagtäglich den Stacheldraht zu versetzen, hatten einen ausgeprägten |93| Sadismus entwickelt, und jedes Mal wenn es ihnen gelang, einen Juden im »Korridor« zwischen sich einzufangen, erlebten sie einen Augenblick ungetrübten Glücks.
    Samuel stolperte und fiel, und einer der Polizisten stieß ihm den Gewehrkolben mehrmals in Rücken und Unterleib und versetzte ihm mit der stahlverstärkten Stiefelspitze einen Tritt in die Brust, um ihn wieder zum Aufstehen zu zwingen. Als der Verkehr dann freigegeben wurde, rissen sie den jetzt halb Bewusstlosen hoch und hievten ihn zwischen sich über den Stacheldrahtzaun. Selbst lange nachdem er Arme und Beine wieder bewegen konnte, saß der Abdruck vom Stiefel des Polizisten als deutliches Kennzeichen der Unterdrückung auf Samuels linkem Lungenflügel. Und auch der Bau der Holzbrücken besserte seine Lage kaum.
    Jeder Schritt die Brücke hinauf glich einem Ersticken, jeder Schritt hinab war eine Qual. Siebenundvierzig Stufen hinauf, siebenundvierzig Stufen hinunter. Mit jedem Schritt blieb immer weniger Luft in der pfeifenden schmerzenden Lunge zurück. Als er auf dem Brückenabsatz ankam, hielt er inne, schweißnass und am ganzen Körper zitternd wie ein Aal, ihm wurde schwarz vor Augen; doch durch den Hungernebel ertönte von Neuem die schwere metallische Stimme des Wachtpostens:
     
    Schnell, schnell

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