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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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…!
    Beeilung, nicht stehen bleiben …!
     
    Würde Herr Serwański von der Tischlerei in der Drukarska das Problem mit Samuels kranker Lunge nicht kennen, hätte er ihn sicher entlassen, und was würde dann aus seiner Familie? Hala dachte in erster Linie an sich selbst. Das Getto war bereits voller Männer, vom Hunger bis zur Unkenntlichkeit ausgemergelt, die jetzt daheim lagen, bleich und vor sich hin stierend, während ihre Frauen die Sorge um die Familie allein trugen.
     
    Der Wintermorgen, an dem Hala Wajsberg ihren Gatten Samuel mit zum Gebetshaus der Chassidim nahm, war fahl und nasskalt, der Dunst hing so tief über dem Getto, dass die hölzernen Brücken geradewegs im |94| Himmel zu verschwinden schienen. Im Hinterzimmer herrschte Chaos. Ordnungskräfte derselben Sorte, die gewöhnlich die Gettofabriken überwachten, taten ihr Bestes, um die Menschenmenge zurückzudrängen, die von draußen hereindrückte und mit jeder Minute anzuwachsen schien. Einem halben Dutzend Frauen war es geglückt, sich zur Trage durchzukämpfen, und sie beugten sich nun, im Arm ihre kranken Kinder, über das Gesicht der Gelähmten.
    Alle riefen und lärmten derart durcheinander, dass niemand bemerkte, dass die Schreie der kranken Frau seit langem verstummt waren. Doktor Szykier hatte seine große schwarze Arzttasche geöffnet und eine Injektion in Maras Arm gesetzt, der dünn und voll rot entzündeter Schürfwunden im Schein der Kerzen dalag, die Fide Szajn um die Trage aufgestellt hatte.
    Im selben Augenblick betrat Helena Rumkowska mit Gefolge den Raum.
    Auch Prinzessin Helena hatte in jüngster Zeit etwas von der besonderen Gettokrankheit verspürt, dieser
malaise au foie
, die, ihrem Leibarzt Doktor Garfinkel zufolge, viele der »Auserwählten« im Getto traf. Wie die französische Bezeichnung besagte, setzte sich die Krankheit hauptsächlich in der Leber fest. Nach einer Gelbsuchtattacke vor vielen Jahren war Frau Rumkowskas Leber erwiesenermaßen empfindlich. Die schwer zu deutenden Krankheitszeichen, die diese Leber abgab, stellten ein unerschöpfliches Gesprächsthema bei den Essen dar, die sie in der Suppenküche auf der Łagiewnicka regelmäßig für die Intellektuellen gab. Zu dieser Küche hatten allein Gettobewohner mit B-Kupon Zutritt,
anständige Menschen
, wie sie es ausdrückte, und zweifellos war es ein Gnadengeschenk, Prinzessin Helena bei einer ihrer Inspektionsrunden innehalten zu sehen, wie sie sich freundlich über die Schulter eines Speisenden beugte, einen Stuhl heranzog und sich womöglich niederließ, um ein Stück artiger Konversation zu führen.
    Eine wenn möglich noch höher zu schätzende Gunst, unerreichbar für die meisten, war es, als
persönlicher
Gast nach Marysin in ihre und Józef Rumkowskis »Residenz« in der Karola Miarki eingeladen zu werden. Das Zuhause des Paares war an und für sich nichts, mit dem man groß prahlen konnte: eine schäbige, holzbeheizte
datsche
mit zahlreichen |95| kleinen engen Zimmern, mit Holzschnitzereien an der Treppe, russischen Teppichen und einfachen Verandafenstern, die, wenn die Winterkälte sie anhauchte, beschlugen und vom Frost weiß glänzten wie die Rückseite von Doktor Millers herausnehmbarem Porzellanauge.
    An der Decke aber hing der Kristalllüster, den Prinzessin Helena aus ihrem alten Łódźer Zuhause mitgebracht hatte; und dieser Lüster war eine Reliquie. Gäste, die bei Rumkowskis eingeladen gewesen waren, berichteten nicht nur von der »üppigen Tafel«, für die Prinzessin Helena bekannt war, sondern auch von den farbenprächtigen Lichtreflexen, die sich von dem Lüster in dem engen Zimmer ausbreiteten; von den einfachen Tüllgardinen, über die Korbmöbel bis hin zu dem mattglänzenden Leinentischtuch.
    Für viele im Getto wurde die Karola Miarki zum Symbol für die
pogodne czasy
, die »goldenen Zeiten«, die vor dem Krieg geherrscht hatten. Unter diesem Kristalllüster hatte Prinzessin Helena eines denkwürdigen Abends einen Sack voller Finken aufschlitzen lassen, die Herr Tausendgeld aus der Gartenvoliere hereinbestellt hatte: mit dem Ziel, das Böse nicht nur aus Prinzessin Helenas Körper, sondern aus dem aller ehrbaren Gettobewohner ein für alle Mal symbolisch auszutreiben. Doch nicht einmal solch dramatische Medikationen halfen. Prinzessin Helena wurde auch weiterhin von ihrer Leber geplagt. Zehn Tage lang lag sie in massiver Dunkelheit in ihrem Schlafzimmer, bis Doktor Garfinkel sie eindringlich bat,
als letzten Ausweg
eine

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