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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Begegnung mit dieser Frau zu versuchen, von der alle sprachen und die aus irgendeinem Grund mit heilenden Kräften ausgestattet war.
    Folglich ließ sie sich unter großen, deutlich betonten Qualen von einer der
droschkes
des Gettos zum Gebetshaus der Chassidim bringen. Dass noch andere Leute anwesend waren, behagte ihr wenig, und sie beorderte die
opiekuni
, all diese Siechen und Lahmen auf den Hof zu scheuchen, und erst als die Kammer leergeräumt war, ließ sie sich darauf ein, sich über die elende Gestalt zu beugen, die ausgestreckt auf der Trage lag.
    Da geschah
das
, was auch Prinzessin Helenas engste Vertraute im Nachhinein schwer zu erklären vermochten. Einer sollte später schreiben, es sei gewesen, als habe die gelähmte Frau eine »plötzliche Anfechtung« überkommen. Andere berichteten, es sei gewesen, wie wenn man |96| sich mit der Hand vor einem Licht schützt. Dunkel und flackernde Unruhe hatten den klaren, reinen Blick der Frau durchzogen. »Ein
dibek!«
, schrie Herr Tausendgeld. Vielleicht war es einfach so, dass sich Mara für kurze Zeit aus dem schweren, morphingetränkten Schlaf zu kämpfen vermochte, in den Doktor Szykier sie versetzt hatte, und Helena Rumkowska, die schnell rührselig wurde, spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog wegen etwas, das sie noch kurz zuvor im wasserklaren Blick der Kranken zu erkennen geglaubt hatte. Sie war derart gerührt, dass sie aus der Handtasche ein kleines Schnupftuch zog und dessen Kanten vorsichtig mit Speichel befeuchtete, ehe sie sich vorbeugte, um etwas wegzuwischen – und
was?
– ja,
was
hatte sie wegwischen wollen? (im Nachhinein erinnerte sich nicht einmal Helena Rumkowska genau daran)- vielleicht ein Speichelrinnsal vom Mund der Frau, die Tränen aus ihren Augenwinkeln, den Schweiß von ihrer Stirn.
    Doch gelangte Prinzessin Helenas bebende Hand mit dem Taschentuch nie ans Ziel.
    Denn in diesem Augenblick wurde der Körper der fremden Frau erneut von Krämpfen geschüttelt. Doktor Szykier, der stets von der Annahme ausgegangen war, dass seine Patientin an Epilepsie litt, stürzte hinzu, um die Kiefer der Frau auseinanderzubiegen. Doch statt sich Doktor Szykiers Griff zu widersetzen, ging der Mund weiter und weiter auf, und im selben Augenblick, als der
dibek
(laut Tausendgeld) den Körper verließ, konnte die gesamte erschrockene Schar, die sich draußen auf dem Hinterhof des Gebetshauses drängte, direkt in den geschwollenen Schlund und auf den dichten weißen Belag blicken, der Gaumen und Rachen der Frau bedeckte. Mara soll in diesem Moment zwei kurze Sätze ausgestoßen haben, anderen zufolge waren es nur zwei mühsam hervorgepresste Worte – diesmal jedoch in vollständig »verständlichem« Jiddisch:
     
    Du host mich geschendt …!
    A bajse riech sol dich und dajn hois chapn …
2
     
    |97| Das war alles. In ihrer ersten erschrockenen Verwirrung hatte Prinzessin Helena das Taschentuch zum Gesicht geführt, sich dann besonnen, was sie tat, und das Tuch hysterisch schreiend von ihren Fingern abgeschüttelt:
     
    Sie ist krank! Sie ist krank!
    Sie haben uns die Krankheit hergeschickt!
     
    Im Laufe weniger Sekunden war die Kammer menschenleer, nur die Ordnungskräfte blieben zurück. Leon Szykier appellierte an die Männer, einen Krankenwagen zu rufen, doch stattdessen kehrten sie mit dem Bescheid zurück, der Bruder des Herrn Präses – Józef Rumkowski – sehe sich unter keinen Umständen in der Lage, die Frau in eins der Gettospitäler aufnehmen zu lassen. Von offizieller Seite hieß es, sie könne nicht behandelt werden, da niemand wisse, wer sie sei. Im Meldebüro des Gettos gäbe es keine Karteikarten über sie. Und wenn kein Name da war, unter dem sie geführt werden konnte, wie sollte man dann sicher sein, dass sie Jüdin war und nicht etwa eine Person, die Amalek unter dieser Tarnung hergeschickt hatte, um Krankheit und Verfall über sie alle auszustreuen?
    Vier Tage und vier Nächte schwebte die höchste Dame des Gettos zwischen Leben und Tod, als Resultat ihrer Begegnung mit der Kranken. Józef Rumkowski trug Prinzessin Helenas Lieblingsvögel in ihr Zimmer: die Hänflinge, die gewöhnlich in den Obstbäumen saßen; den lustigen Star, der umherhüpfte und sich anhörte wie Marschall Piłsudski.
    Aber auch die Vögel saßen nun still und verstimmt in ihren Käfigen.
    Im Gebetsraum in der Lutomierska hatte Doktor Szykier eine Quarantänestation eingerichtet. Es war die erste des Gettos, und man musste sie wohl als im höchsten Grad

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