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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Mai 1941 stieg Rumkowskis neuernannter Propagandaminister, Szmul Rozensztajn, vor dem Barackenbüro am Bałucki Rynek auf einen umgekippten Bierkasten und gab allen, die es hören wollten, bekannt, dass der Herr Präses nach Warschau gefahren war, um Ärzte für das Getto zu besorgen. Überall, wo sich Leute versammelten, von Wiewiórkas Frisiersalon in der Limanowskiego bis zu den Schneiderwerkstätten in der Łagiewnicka, wurde die Botschaft weiterverbreitet:
Der Präses ist nach Warschau gefahren, um für die Kranken des Gettos Heilung und Rettung zu finden.
    Kaum war der Älteste abgereist, bereitete man auch schon seine Rückkehr vor. Die sollte in großem Stil ablaufen –
pro królewsku
–, mit Kalesche und Ehrenwache und großen Mengen jubelnder Zuschauer, die von der uniformierten Gettopolizei auf gehörigen Abstand gehalten wurden. Obgleich es sich in Wahrheit nur um einen einfachen Routinetransport handelte, organisiert von der Gestapo, die die 1300 Kilometer bis Warschau tagtäglich im Konvoi fuhr und nicht das Geringste dagegen hatte, einen Juden mitzunehmen, wenn er so dumm war, die 20   000 Mark für die Fahrkarte hinzublättern.
     
    Rumkowskis Besuch in Warschau währte acht Tage.
    Rund um die Uhr sprachen Mitglieder von Czerniakóws Judenrat bei ihm vor, darüber hinaus aber auch Männer vom Widerstand und Kuriere, die alles zu erfahren suchten, was er möglicherweise über deutsche Truppentransporte und die Lage der im Wartheland verbliebenen Juden wusste. Persönlich hatte der Älteste kein Interesse daran, sich zu informieren, wie es den Juden in Warschau erging, wie sie ihre
alejnhilf
organisierten, wie die Verteilung der Lebensmittel ablief, wie sie ihre Kinder unterrichteten oder politische Agitation betrieben. Wohin er auch unterwegs war, stets schleppte er seinen großen Koffer mit. Der |101| Koffer enthielt Broschüren und Informationshefte, die er von Rechtsanwalt Neftalin aus der Statistischen Abteilung hatte zusammenstellen und von Rozensztajn hatte drucken lassen. Darin standen Angaben über die Menge der Korsetts und Büstenhalter, die seine Damenschneiderwerkstätten Monat für Monat produzierten, und wie viele Uniformmäntel, Handschuhe, Uniformmützen oder ledergefütterte Tarnkappen das deutsche Heeresbekleidungsamt bei ihm bestellt hatte. Auf die Juden in Warschau, die ihm begegneten, machten der Alte und sein Koffer einen unauslöschlichen Eindruck:
     
    Eine Person, die sich König Chaim nennt, hat seit mehreren Tagen hier Hof gehalten, ein alter Mann von siebzig Jahren, ein wenig verstiegen [
a bisl a zedrejter
] und mit großen Ambitionen. Er erzählt geradezu Wunder über sein Getto. In Łódź [sagt er] gebe es einen jüdischen Staat mit vierhundert Polizisten und drei Gefängnissen. Er hat ein eigenes »Außenministerium« und mehrere andere Ministerien. Auf die Frage, warum es, wenn es dort nun so gut steht, dennoch so schlecht ist, warum so viele sterben, gibt er keine Antwort.
    Er sieht sich selbst als den Auserwählten des Herrn.
    Denen, die imstande sind, ihm zuzuhören, erzählt er, wie er die Korruption im Polizeiwesen bekämpfe. Er sagt, er tauche im lokalen Polizeihauptquartier auf und reiße allen, die da stehen, Mützen und Armbinden herunter.
    So sorgt der Auserwählte des Herrn für Gerechtigkeit im Getto Litzmannstadt.
    Der regierende Ältestenrat im Getto hat siebzehn Mitglieder. Sie alle gehorchen seinen kleinsten Winken und Befehlen. Rumkowski nennt ihn
seinen
Ältestenrat. Er scheint alles im Getto als sein persönliches Eigentum zu betrachten. Es sind
seine
Banken und
seine
Aufkaufstellen,
seine
Läden und
seine
Werkstätten. Vermutlich auch
seine
Epidemien,
seine
Armut und
seine
Schuld an all der Erniedrigung, der er seine Bewohner aussetzt.
     
    |102| Auch Adam Czerniaków und die anderen Mitglieder des Judenrates im Warschauer Getto waren ihm begegnet. Czerniaków schreibt in seinem Tagebuch:
     
    Wir trafen heute mit Rumkowski zusammen.
    Der Mann ist unfassbar dumm, dünkelhaft; ein Wichtigtuer. Immer wieder betont er seine eigene Vortrefflichkeit. Hört nie zu, was andere sagen.
    Und er ist gefährlich, weil er den Behörden einredet, dass in seinem kleinen Lehen alles zum Besten steht.
     
    Doch Rumkowski hatte selbst Augen, um zu sehen, und aus dem, was er sah, ließ sich nur eine Schlussfolgerung ziehen. Im Unterschied zum Litzmannstädter Getto herrschten im Warschauer Getto ausschließlich Chaos und Verfall. Die Leute schienen keiner Arbeit

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