Die Elenden von Lódz
provisorisch bezeichnen, denn vor dem Raum versammelte sich nun erneut eine große Menschenmenge. Die aber war weitaus aggressiver, bestand in erster Linie aus Männern, die verlangten, dass man die Frau aus dem Getto weise.
Schande, Schande über jeden, der die Krankheit ins Getto bringt!
Schließlich wusste sich der Rebbe der Chassidim keinen anderen Rat, |98| als die kranke Frau auf die Trage zu legen und erneut mit ihr umherzuziehen. Die ersten beiden Tage verbrachte sie in der heimischen Küche von Doktor Szykier. Bald aber fand die wütende Menge auch dorthin. Und so wurde die schwankende Reise zwischen wechselnden Häusern und Adressen angetreten, die erst in der Nacht zum 5. September 1942 ein Ende fand, der ersten
szpera
-Nacht, als der Älteste seine schützende Hand vom Getto zog und deutsche Polizisten unter dem Kommando von SS-Hauptsturmführer Günther Fuchs von Haus zu Haus gingen und alle Schwachen und Kranken, alle Kinder und Alten des Gettos mitnahmen.
Und für Samuel Wajsberg hatte es keine Heilung gegeben.
Und auch für seine Frau Hala nicht, die drei Tage nach Bekanntgabe des Ausgangsverbots ihren überaus geliebten Sohn Chaim verlieren sollte.
Das war, als verlöre man das Leben selbst.
*
Zwei Tage nach dem Tumult im Gebetshaus der Chassidim berief der Älteste das Ärztekollegium ein, um auf der Zusammenkunft ein für alle Mal zu beschließen, wie man mit den Epidemien verfahren sollte, die das Getto von innen her zu vernichten drohten. Darüber hinaus nahm Rabbi Fajner vom Rabbinat teil, da auch Fragen erörtert werden sollten, die nicht allein die physische Gesundheit betrafen.
Auf die Versammlung folgte eine hin und wieder hitzige Diskussion.
Doktor Szykier wies entschieden alle Gerüchte zurück, dass die Frau die Krankheit selbst hereingebracht habe, und bekam Unterstützung vom Gesundheitsminister des Gettos, Viktor Miller, der erklärte, dass es im Fall von Diphtherie tatsächlich Phasen oder Vorstadien gebe, die an eine Nervenlähmung erinnerten. Obendrein, meinte Doktor Miller, stelle die Diphtherie vor allem eine Bedrohung für die jungen Gettobewohner dar, allerdings würde die Krankheit ausschließlich von Mund zu Mund übertragen, was die Gefahr trotz allem begrenze. Anders verhalte es sich, so sagte er, mit Ansteckungskeimen, die das Wasser durchsetzten, das wir tränken, und die Nahrung, die wir äßen, sowie das, was |99| in allen Wänden kreuche und dem man nicht beikommen könne, sofern nicht das gesamte Getto saniert werde.
Um die Ruhr und den Typhus zu bekämpfen benötigen wir Ärzte; nichts anderes als das – Ärzte, Ärzte, Ärzte!
Doktor Miller machte den Kampf gegen die Epidemien im Getto zu seinem privaten Kampf. »Die Leute klagen, dass sie nicht mehr koscher leben können, aber ihr Wasser abzukochen oder unter dem eigenen Herd für Sauberkeit zu sorgen, lassen sie außer Acht!« Unermüdlich maß er mit seinem eisenbeschlagenen Blindenstock die Tiefe der offenen Abwasserrinnen, durchsuchte mit den wenigen noch vorhandenen Fingern seiner Hand die Abfallhaufen und Latrinenrinnen; drückte den Daumen hinter aufgequollene oder blasige Tapeten auf der Jagd nach Typhusläusen. Beim geringsten Verdacht von Typhus oder Ruhr stellte er das gesamte Haus unter Quarantäne.
Allmählich war der Kampf von Erfolg gekrönt. Schon im Laufe eines Jahres konnte die Zahl der Ruhrfälle um das Zehnfache verringert werden, von 3414 im zweiten Jahr der Existenz des Gettos bis auf knapp 300 im Jahr darauf. Beim Typhus gab es eine ähnlich fallende Kurve mit dem Höhepunkt von 981 Fällen im Zeitraum zwischen Januar und Dezember 1942 und der schrittweisen Nivellierung in den beiden folgenden Jahren.
Was den Ausbruch der Diphtherie anbelangt, geschieht jedoch etwas Seltsames. Die ersten vierundzwanzig Stunden nach dem Tumult im Gebetshaus der Chassidim registrieren die Getto-Polikliniken vierundsiebzig neue Fälle, am Tag darauf nur noch zwei, danach keinen einzigen mehr. Wie das Nebelbild, das Herr Tausendgeld über das Gesicht der kranken Frau gleiten zu sehen meinte, kommt und geht die Krankheit aus dem Getto, schnell wie ein Flüstern. Nicht einmal Prinzessin Helena kann sie spüren, obgleich sie Tag für Tag vom Fieber geschüttelt im Obergeschoss der Karola Miarki liegt und darauf wartet, dass die entsetzliche Stimme, die aus Maras geschwollener Kehle zu ihr drang, auch Platz in ihr nimmt.
Doch nichts geschieht. Jedenfalls noch nicht.
|100| Am frühen Morgen des 9.
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