Die Elenden von Lódz
nachzugehen, trieben nur ziellos umher. Längs der Gehsteige saßen reihenweise ausgemergelte Kinder neben ihren ausgehungerten Müttern und bettelten. Aus einem Restaurant – noch immer gab es hier dergleichen! – hörte man gewaltigen Lärm und Suffgeschrei. Der Kontrast war enorm. Rumkowski wurde zu einem Kolonialwarenladen eskortiert, der zur Notaufnahme geworden war. Im Schaufenster des Geschäfts hatte man Bretter über Holzböcke gelegt; auf diesen primitiven Pritschen lagen alte Männer und starben mitten vor den Augen der Passanten. Er besuchte eine von Poale Zion betriebene Suppenküche, in der, wo sich nur Platz fand, Menschen lehnten und hockten und ihre Gratissuppe schlürften.
Überall, wohin er kam, klagten die Leute.
Über den Schmutz, die beengten Wohnverhältnisse; die widrigen sanitären Bedingungen.
Im Versammlungshaus hatte man zu einem Treffen aller Juden eingeladen, die in der Anfangsphase des Krieges aus Łódź geflohen und nun hier hängengeblieben waren, in Abraham Gancwajchs Beschützernetzwerk oder als Czerniakóws Lakaien. Es betraf Tausende von Łódźer Juden, alte und junge, die den Saal bis zum letzten Stehplatz füllten.
Er hatte seinen Reisekoffer dabei, den Deckel weit geöffnet.
|103| »Nichts«, sagte er, »absolut nichts spricht heute gegen das Getto als zukünftige Existenzform der europäischen Juden …!«
Gegenwärtig herrscht Krieg in Europa. Aber Krieg ist nichts Neues für die europäischen Juden. All die Jahre, als dunkle Wolken über unsere Städte und Dörfer zogen, haben wir gelernt, mit der Tatsache umzugehen, dass wir abgegrenzt voneinander leben und uns nicht länger frei bewegen können.
In früherer Zeit, wenn Not und Armut in unseren Städten und Dörfern herrschten, wenn es an Ärzten mangelte oder Arzneimittel fehlten, fasste man in den Gemeinderäten den Beschluss, einen Sendboten auszuschicken, der sich erkundigen sollte, ob es in einer nahegelegenen Stadt einen Arzt gab, der sich vorstellen konnte, mit ihm an seinen Heimatort zurückzukehren, um bei der Heilung der Kranken zu helfen.
SEHT MICH ALS EINEN SOLCHEN SENDBOTEN – Ich bin ein einfacher Jude wie ihr alle, der mit der Bitte um Hilfe zu euch kommt
[
…
].
Die meisten von euch haben gewiss von meinem Getto gehört.
Böse Zungen behaupten, meine Juden hätten sich freiwillig auf Sklavenarbeit eingelassen. Dass wir uns in Schmutz und Unrat suhlen. Dass wir die Sabbat-Gebote bereitwillig brechen, dass wir willentlich unreine Nahrung essen. Dass wir uns erniedrigen, indem wir selbst die geringste Anordnung der Besatzer ausführen.
Die all das behaupten haben es nicht recht verstanden, den Wert der Arbeit zu schätzen. Denn so steht es in den Sprüchen der Väter geschrieben: ZWAR IST ES NICHT DEINE SACHE, DIE ARBEIT ZU VOLLENDEN, DOCH DARFST DU DICH IHRER AUCH NICHT EINFACH ENTLEDIGEN.
Und was bedeutet das? Das bedeutet, dass Arbeit nicht ausschließlich von deinem oder meinem Verdienst handelt. Arbeit hält eine Gesellschaft zusammen.
Arbeit reinigt nicht nur. Arbeit beschützt auch.
Bei uns, in meinem Getto, stirbt niemand an Hunger. Jeder, der arbeitet, hat das Recht, an dem teilzuhaben, was es zu teilen gibt.
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Doch Rechte verpflichten auch. Wer betrügt, wer zum eigenen Vorteil von dem nimmt, was der Allgemeinheit gehört, der soll auch aus seinem
chewre
ausgeschlossen werden und nirgendwo Nahrung für sich finden. Nirgendwo einen Platz zum Schlafen. Und nirgendwo soll er willkommen sein, um zu beten.
Umgekehrt aber gilt, dass jeder, der bereit ist, für die Gemeinschaft zu arbeiten, auch dafür belohnt werden soll. Ich komme nicht zu euch als einer, der predigt und doziert. Ich bin ein einfacher Mensch. Gott hat mir wie auch allen anderen zwei Hände gegeben. Die erhebe ich jetzt mit einer Bitte an euch – kommt zurück zu uns nach Litzmannstadt und helft uns, ein Zuhause für alle Juden aufzubauen.
Jeder Einsatz ist willkommen.
Auch Geldgeschenke werden entgegengenommen.
Die Leute kamen in den Nächten zu ihm.
Sie wollten nichts von seinen hohen Produktionsquoten oder von all seinen Erfolgen beim Kampf gegen Korruption und den Schleichhandel im Getto hören. Sie wollten ihn von Freunden und Verwandten erzählen hören, die sie in Litzmannstadt zurückgelassen hatten, von den Vierteln, in denen sie gewohnt hatten, wollten wissen, ob die Häuser noch standen und ob diejenigen, die ehemals dort wohnten, noch lebten. Und er klappte den Deckel seines Koffers auf
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