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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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und verteilte Briefe und Postkarten, und um ihre Erinnerung noch weiter »aufzufrischen«, erzählte er von den Kastanienbäumen, die sie mit Erlaubnis der Deutschen in diesem Frühjahr an der Lutomierska pflanzen würden. Eine richtige Avenue sollte dort entstehen. Er erzählte von den Kindern, die tagtäglich in die Schule gingen, und von den Ferienkolonien, die er in Marysin zu gründen plante: siebzehntausend Kinder sollten mit drei warmen Mahlzeiten am Tag verköstigt werden; sollten Unterricht in Jiddisch, Hebräisch und jüdischer Geschichte von Lehrern erhalten, die er eigens zu diesem Zweck ausgebildet hatte; ein Krankenhaus mit der modernsten Apparatur hatte man ihm allein für die Kinder zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug sollten sich diese im Frühjahr bei der Aussaat und dem Pflanzen von Gemüse und Knollenfrüchten betätigen. Er erzählte, dass es Kollektivlandwirtschaftsbetriebe gab, in denen Hunderte |105| Kibbuzniks mit dem Stecken von Kartoffeln beschäftigt waren. Drei Kartoffelernten im Jahr holten sie aus dem Boden.
    Dem Koffer entnahm er einen
Informator far klajngertner
, ein Handbuch für den Gemüseanbau, das Szmul Rozensztajn gedruckt hatte. Das Wichtige sei nicht,
wer
oder
was
man sei, sagte er und wedelte mit dem Heft, das Wichtige sei, dass jeder Einzelne, der zu ihnen komme, sein Handwerk beherrsche und bereit zum Arbeiten sei.
    *
    Eine reichliche Woche später war der Älteste zurück in Litzmannstadt. Von einer Rückkehr
pro królewsku
konnte allerdings kaum die Rede sein. Eins der Gestapo-Fahrzeuge setzte ihn an der Gettogrenze ab. Es war nachmittags gegen halb sechs. Das Getto lag verlassen. Ganz oben an der Zgierska, nicht weit von der Holzbrücke entfernt, stand eine Straßenbahn vollkommen still, als hätte sie der Blitz getroffen.
    Wo waren all die Menschen geblieben? Sein erster Gedanke war absurd: dass die Bevölkerung des Gettos seine Abwesenheit nicht ertragen hatte und deshalb ganz einfach vor Hunger und Kummer krepiert war. Sein zweiter Gedanke war wahrscheinlicher: dass in seiner Abwesenheit eine Art
Putsch
stattgefunden hatte. Ob sich etwa die Bundisten, die Arbeiterzionisten oder die verrückten Marxisten wieder gegen ihn zusammengerottet hatten? Oder sollte womöglich der so entgegenkommende Dawid Gertler die Behörden überzeugt haben, ihm auch die Funktionen des Ordnungsdienstes zu überlassen?
    Doch wenn das geschehen war – warum herrschte dann überall diese Ruhe und Stille?
    Die Feldgrauen standen da wie immer, stramme Idioten in ihren rotweiß gestreiften Schilderhäuschen. Sie schauten nicht einmal in seine Richtung. Er beschloss, nicht weiter über die Sache nachzugrübeln, griff nach seinem Koffer und lenkte die Schritte zum Schlagbaum, der den Eintritt zum Bałucki Rynek markierte.
    Vor der langen Barackenreihe der Gettoverwaltung war ein Lastwagen vorgefahren, und hinter dem Fahrzeug – als hätten sie Deckung hinter einem Splitterschutz gesucht – wartete der gesamte Stab mit Fräulein |106| Dora Fuchs, Herrn Mieczysław Abramowicz und dem ewigen Szmul Rozensztajn an der Spitze. Sie wirkten nervös, so als hätte er sie bei etwas Schändlichem ertappt.
     
    Wo sind all die Menschen?
    Im Getto ist geschossen worden, Herr Präses.
    Wer? Wer hat geschossen?
    Das weiß man nicht. Nur dass die Schüsse aus dem Getto kamen. Einer davon traf so unglücklich, dass ein deutscher Funktionär verwundet wurde. Der Herr Amtsleiter ist gewaltig aufgebracht.
    Wo ist Rozenblat?
    Polizeioberkommandant Rozenblat ist von den Behörden zum Verhör gerufen worden.
    Dann bittet Gertler her.
    Herr Amtsleiter Biebow hat mitgeteilt, dass im Getto Ausgangsverbot herrscht, bis man den Täter ergriffen hat. Wenn sich dieser nicht vor sieben Uhr morgen früh gestellt hat, droht er, achtzehn Juden zu erschießen.
    Und wo befinden sich diese Juden jetzt?
    Im Roten Haus, Herr Präses.
    Nun gut, gehen wir also zum Roten Haus. Herr Abramowicz, Sie kommen mit.
     
    Das Rote Haus war ein Gebäude im Viertel hinter der Marienkirche auf dem großen Kirchplatz, drei Stockwerke hoch und aus massiven roten Ziegeln; daher der Name.
    Vor der Besetzung hatte der rote Klinkerbau als Katholisches Gemeindeamt gedient, doch gleich bei Errichtung des Gettos hatte die deutsche Kriminalpolizei das Potential des Hauses erkannt, alle Kirchenleute hinausgeworfen und ihr eigenes Personal einziehen lassen. Im Obergeschoss saßen polnische Maschineschreiberinnen und verfassten Berichte an die Stabszentrale

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