Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
im Inneren von Litzmannstadt. Im Kellergeschoss lagen die Folterzellen.
    Im Getto hatten die Juden die Freiheit, zumindest in Gedanken Viertel um Viertel zu durchstreifen. Jeder echte Bewohner Bałutys würde |107| selbst mit verbundenen Augen alle Gassen, Querstraßen und Höfe finden. Beim Roten Haus aber machten sowohl Zunge als auch Gedanken halt. Allein das Aussprechen des Namens
Rojtes heisl
gab einem das Gefühl, einen entzündeten Zahn zu berühren: Der ganze Körper zog sich vor Schmerz zusammen. Nacht für Nacht wurden die Anwohner der Brzezińska und Jakuba von den Schreien der Gefolterten geweckt; und allmorgendlich – ungeachtet, ob es dort Leichen abzuholen gab oder nicht – wartete Herr Muzyk, der Bestattungsunternehmer, mit seinem Karren davor.
     
    In seinem Tagebuch berichtet Szmul Rozensztajn, dass Rumkowski am Tag seiner Rückkehr aus Warschau zweimal mit den deutschen Behörden zusammengetroffen ist.
    Zunächst im Roten Haus (wo er endlich den Empfang erhielt, den er bei seiner Heimkehr vermisst hatte: achtzehn Männer von Biebows Geiseln pressten ihre angstvollen Gesichter ans Gefängnisgitter und schrien ihre Erleichterung heraus, weil ihr Befreier endlich zurückgekehrt war); später mit Biebow persönlich in dessen Baluter Büro.
    Zu diesem Zeitpunkt aber sah die Geschichte zu dem, was vorgefallen war, etwas anders aus:
    Es hatte sich herausgestellt, dass es im Getto keinen Schusswechsel gegeben hatte. Allerdings war ein schwerer, stumpfer Gegenstand aus dem abgeriegelten Getto geworfen worden und hatte eine Straßenbahn getroffen, die im selben Augenblick im »arischen« Korridor draußen vorbeigefahren war. Dieselbe Straßenbahn, die er bei seiner Ankunft auf der Steigung vom Bałucki Rynek hatte stehen sehen. Der Stein aus dem Inneren des Gettos hatte eins ihrer Fenster zertrümmert, und Glassplitter hatten einen der Fahrgäste im Mittelgang getroffen. Darüber hätte man möglicherweise hinwegsehen können, wäre der Getroffene nicht zufällig Karl-Heinz Krapp gewesen, ein Beamter aus der Kanzlei von Bürgermeister Werner Ventzki; ein waschechter Arier.
    Von Seiten der Kripo war man sofort davon ausgegangen, dass es sich um ein Attentat handelte, und sie hatte etwa fünfzig Personen festgenommen, die Zeugen des Vorfalls geworden waren, und achtzehn dieser Geiseln in die Verhörräume des Roten Hauses verbracht. Von Punkt |108| sieben Uhr am nächsten Morgen an sollte jede Stunde einer von ihnen hingerichtet werden, bis sich der Steinewerfer gestellt hatte.
    »Wenn Sie die Absicht haben, etwas in der Sache zu tun, ist es wohl das Beste, sie fangen sofort damit an«, sagte Biebow zu Rumkowski.
     
    Rumkowski erteilte Dawid Gertler den Befehl, sämtliche Häuserblöcke auf der rechten Seite der Zgierska zu durchsuchen. Gertlers Männer entschlossen sich, wissenschaftlich vorzugehen. Um das Straßenbahnfenster im entsprechenden Winkel zu treffen, musste der Stein aus relativ großer Höhe geworfen worden sein, also aus dem dritten oder vierten Stockwerk eines der Mietshäuser, die die Zgierska säumten. Das schloss alle Gebäude außer zweien aus.
    Gertlers Männer stürmten die gewundenen, baufälligen Treppen hinauf, brachen verschlossene und verbarrikadierte Wohnungstüren auf und drangen in die Räume ein.
    Gegen halb acht konnte Gertler höchstpersönlich mitteilen, dass der Täter umzingelt war. Er befand sich in einer zuoberst gelegenen Wohnung in der Zgierska 87. Offenbar befanden sich auch Kinder dort. Als die Polizisten die Wohnungstür aufgebrochen hatten, war von innen deutlich Kindergeschrei zu vernehmen.
    »Sollen wir trotzdem reingehen?«, fragte Gertler.
    »Lasst es«, erwiderte der Älteste. »Ich komme selbst.«
     
    Die Zgierska 87 war das heruntergekommenste der Mietshäuser, die auf die Flisacka, eine Querstraße, hinausgingen. Die vier Fensterzeilen in der Fassade glichen ebenso vielen Höhlenlöchern. In keinem einzigen der Fenster befand sich eine intakte Scheibe. Bei den meisten fehlten auch die Fensterrahmen, und gegen Regen und Kälte schützten lediglich einfache Pappscheiben oder ein schmutziges Stück Laken.
    Die Polizisten hatten das Gebäude bereits umstellt, und sobald der Älteste eingetroffen war, geleiteten sie ihn bis nach oben, zu einer Wohnung im vierten Stock. Dicht am Herd hockten zwei Männer auf etwas, das einer umgekippten Emaillewanne glich; neben ihnen stand eine Frau und presste die Hände an ihre schmutzige Schürze. Gertler ging den anderen

Weitere Kostenlose Bücher