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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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voran in den hinteren Teil des Raumes, zu einer Art Garderobe |109| oder Vorratskammer, und hämmerte mit der Faust mehrfach gegen die Türfüllung.
    Geht weg, lasst uns in Frieden
, erklang es gedämpft aus dem Inneren.
    (Eine rauhe Männerstimme.)
    Der Älteste trat an die Tür und sagte mit respektheischender Stimme: Ich bin es. Rumkowski.
    Auf der anderen Seite wurde es still. Jemand meinte ein Flüstern zu hören und das Geräusch einander rempelnder Körper. Offenbar befanden sich mehrere Personen in der Kammer.
    Rumkowski:
    Wir verlangen, dass sich derjenige, der dieser Tat schuldig ist, auch dazu bekennt. Ansonsten gehen achtzehn unschuldige jüdische Leben verloren.
    Erneut: Stille. Dann ertönte eine Stimme. Eine sehr dünne Stimme …
    Ist da wirklich der Herr Präses?
    Ein Kind. Vielsagende Blicke gingen zwischen den Männern von Gertlers Kommando hin und her. Der Älteste räusperte sich und sagte mit einer Stimme, die er möglichst barsch und gebieterisch klingen lassen wollte:
    Wie heißt du?
    Mojsze Kamersztajn.
    Hast du den Stein geworfen, Mojsze?
    Der sollte nicht so schlimm treffen.
    Warum hast du den Stein geworfen, Mojsze?
    Ich werfe immer Steine nach Ratten. Aber es ist weggewutscht.
    Die Ratte oder der Stein?
    Sind Sie es wirklich, Herr Präses?
    Ich bin es, Mojsze, und ich habe ein Geschenk für dich.
    Was ist das für ein Geschenk?
    Das wirst du sehen, wenn du rauskommst. Ich habe das Geschenk in meinem Koffer.
    Ich traue mich nicht raus, Herr Präses. Man wird mich schlagen.
    Hier wird dich keiner schlagen, darauf hast du mein Wort.
    Was ist das für ein Geschenk? Wann kann ich es haben?
    Eine rauhe Männerstimme im Inneren:
    |110|
Hör auf damit, die versuchen dich nur zu übertölpeln-
    Mojsze, wer ist da mit dir in der Kammer?
    (Schweigen.)
    Sag nichts!
    Ist das dein Vater?
    Ja …
    SEI STILL, VERDAMMT!
    Es wurde still.
    Kurze Zeit. Dann ergriff der Älteste aufs Neue das Wort:
    Mojsze, sag deinem Vater, wenn du dich hier zeigst, dann darfst du zu mir kommen. In meiner Polizeitruppe gibt es genügend Platz für tüchtige Jungs.
    (Schweigen.)
    Bist du nicht ein großer Junge, Mojsze? Sag, bist du ein Mann?
    Antworte nicht!
    (Schweigen.)
    Nenn mir irgendetwas, was du gut kannst, Mojsze.
    Ich kann gut Ratten töten.
    Dann wirst du bei mir Ratten töten
.
    Werde ich Polizist?
    Mehr als das. Ich werde dich zum Chef für ein spezielles Rattenkommando machen. Wenn du nur die Tür öffnest und herauskommst. Es ist nie zu spät, etwas aus seinem Leben zu machen, Mojsze.
     
    Die Tür wurde geöffnet, und ein magerer Junge von dreizehn Jahren blinzelte ins Licht. Hinter ihm stand ein älterer Mann, bleich und unrasiert. Der Mann blickte verlegen umher. Es war offensichtlich, dass ihm die Aufmerksamkeit all der Menschen, die ihn in dem engen Raum umgaben, nicht zusagte. Der Junge war ebenso bleich wie sein Vater und irgendwie schief gewachsen. Die rechte Seite seines Gesichts hing über die linke hinüber, die schlaff wirkte, so als fehle ihr jedes Gefühl. Das Gleiche beim Körper: als hätte jemand an der Schulter einen Fleischerhaken befestigt, von dem der Rest des Körpers schlaff und leblos herabbaumelte. Doch der lebendige Teil des Gesichts strahlte vor Erwartung.
    |111| Im Nachhinein sollte im Getto viel darüber gesprochen werden, wie gut der Älteste mit Kindern umzugehen verstand. Durch die Provokation der Behörden hatte dieses Kind das Leben Hunderter unschuldiger Juden aufs Spiel gesetzt. Niemand wäre verwundert gewesen, hätte der Präses in diesem Augenblick eine seiner härtesten Disziplinarstrafen verhängt. Doch genau das tat er nicht. Hingegen hockte er sich vor den Jungen und nahm dessen Hände in die seinen.
    »Wenn du mein Sohn wärst, Mojsze Kamersztajn, was, glaubst du, hätte ich dann mit dir gemacht?«
    Der Anblick des Präses war so überwältigend, dass der Junge nichts anderes vermochte, als auf die schmutzigen Dielen zu starren; er schüttelte den Kopf.
    »Ich würde dich bitten, gründlich über das nachzudenken, was du da getan hast, und dann deine Strafe mit Würde anzunehmen. Wenn dir das gelingt, dann hast du meinen Respekt erneut verdient.«
    Er nahm den Jungen bei der Hand und führte ihn an der Polizistenkette vorbei die Treppe hinunter auf die Straße. Dann gingen sie zusammen durchs Getto. Der Älteste voran, eifrig gestikulierend (offenbar war er im Begriff, eine seiner zahllosen Geschichten zu erzählen); der Junge hinterher, mit rollender steifer

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