Die Elenden von Lódz
fest im Griff.
Mojsze Kamersztajns zweigeteiltes Gesicht war auf beiden Seiten rotgeschwollen; die linke Wange war auf die doppelte Größe angewachsen und schien bis zum Schlüsselbein herabzuhängen. Doch seinem grundlegenden Defekt hatten die Folterknechte des Roten Hauses offenbar nicht beikommen können. Der Junge bewegte sich noch immer genauso ungelenk, als wäre ihm zwischen Wange und Nacken ein schmerzender Haken eingetrieben –
Er sagt, der Herr Präses habe ihm ein Geschenk aus Warschau versprochen.
|114| Der Älteste drehte den geöffneten Koffer großzügig in seine Richtung.
Dann tritt näher, junger Herr Kamersztajn:
Tritt näher und such dir aus, was du haben willst –
Drei Wochen später traf, als weiteres
Geschenk
von Rumkowski ans Getto, ein Transport von insgesamt zwölf Ärzten aus Warschau ein. Die Vertragsbedingungen hatte der Älteste bereits an Ort und Stelle vereinbart, und das Bestechungsgeld nebst Transportkosten war an die Gestapo bezahlt. Die Chronik listet sämtliche zwölf Ärzte mit Namen und Fachrichtung auf:
Michał Eliasberg
und
Arno Kleszczelski
– (Chirurgen);
Abraham Mazur
– (HNO-Arzt);
Salomon Rubinstein
– (Röntgenologe);
Janina Hartglas
und
Benedykta Moszkowicz
– (Kinderärztinnen);
Józef Goldwasser
,
Alfred Lewi
,
Izak Ser
,
Mojžesz Nekrycz
,
(Fräulein)
Alicja Czarnożyłówna
und
Izrael Geist
– (Internisten)
|115| Im Juni 1941 leiteten die Deutschen ihre Invasion der Sowjetunion ein: das Unternehmen Barbarossa.
In Wiewiórkas Frisiersalon standen die Leute stundenlang an, um dem Vortrag aus einem Exemplar der
Litzmannstädter Zeitung
zu lauschen, die zurückzulassen man einen der deutschen Wachtposten überredet hatte. Herr Wiewiórka selbst las den deutschen Text vor, und einer seiner Lehrlinge dolmetschte ins Jiddische. »Weißrussland«, übersetzte der junge Friseurlehrling mit immer zittriger Stimme, »ist
im Sturmschritt
erobert worden; deutsche Truppen
befinden sich bereits auf dem Marsch nach Moskau.«
Was mochte als Nächstes geschehen?
Im selben Monat, am 7. Juni 1941, hatte auch Reichsführer-SS Himmler das Getto besucht. Zu den Fabriken und Werkstätten, die Himmler inspizierte, gehörten die Zentralschneiderei in der Łagiewnicka 45 und die Uniformschneiderei in der Jakuba. Der Älteste war nach seiner Warschauer Reise zu dem Schluss gekommen, dass er das Getto nie mehr unbewacht zurücklassen durfte, und nun hatte er am Vorabend von Himmlers Besuch auf eigene Initiative ein Ausgangsverbot verhängt, das von acht Uhr abends bis auf weiteres galt. Die Autokarawane mit den SS-Leibwächtern und der Limousine, in der Himmler saß, fuhr durch offene, leere Gettostraßen, auf denen kein Mensch zu sehen war.
In seinem Tagebuch notierte Szmul Rozensztajn folgenden Wortwechsel zwischen Rumkowski und Himmler:
Himmler:
Also Sie, Herr Rumkowski, sind der berühmte reiche Jude von Litzmannstadt.
Rumkowski:
Ich bin reich, Herr Reichsführer, weil ich ein ganzes Volk zu meiner Verfügung habe.
|116|
Himmler:
Und was tun Sie also mit diesem Ihrem Volk, Herr Rumkowski?
Rumkowski:
Mit meinem Volk baue ich eine Arbeiterstadt, Herr Reichsführer.
Himmler:
Aber das ist keine Arbeiterstadt – das ist ein Getto!
Rumkowski:
Das ist eine Arbeiterstadt, Herr Reichsführer: Wir werden so lange weiterarbeiten, wie Sie Forderungen an uns stellen.
Zu den Mitgliedern seines Ältestenrates sagte der Präses anschließend, dass die deutschen Erfolge an der Ostfront den
Druck
auf das Getto ein wenig linderten. Es herrsche
Ruhe
bei der Besatzungsmacht, die er sich zunutze zu machen gedenke. Jetzt sei die Zeit gekommen, die Erweiterung des Gettos zu verlangen.
Die beengten Wohnverhältnisse führen zu einer sozialen Misere, und die miserablen sanitären Bedingungen lassen Krankheiten Fuß fassen – vor allem die Diphtherie hat sich als schwer zu bekämpfen erwiesen. Ich habe persönlich mehrere Ärzte in mein Getto bringen lassen, doch ist das keine Hilfe, solange ich nicht ganze Häuser, ja, sogar ganze Viertel unter Quarantäne setzen kann.
Gegenüber den Behörden nahm Rumkowski eine weit bescheidenere Haltung ein. Vor diesen stand er, wie er immer zu stehen pflegte, die Hände an der Hosennaht und den weißhaarigen Kopf demütig gesenkt –
Ich bin Rumkowski. Melde mich gehorsamst zur Stelle.
Es war jetzt zwei Tage her, dass er sein Gesuch eingereicht hatte, das Getto »aus sanitären Gründen« zu
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